Gespräch mit Experten – Peter Benecken über die Parks in den 90er Jahren

Peter Benecken ist Experte für Gartendenkmalpflege und als Stadtbezirkskonservator mitverantwortlich für den Erhalt historischer Park- und Gartenanlagen der Stadt Leipzig. Mit fundiertem Wissen über Landschaftsarchitektur und denkmalschutzrelevante Fragen bewertet er historische Grünflächen, begleitet Restaurierungen und Bauvorhaben. Im Gespräch gibt er Einblicke in die Entwicklung der Leipziger Parks seit den 1990er Jahren, insbesondere in den Jahren nach der Wende, berichtet über den Palmengarten und erklärt, warum der Erhalt denkmalgeschützter Freiräume weit mehr ist als das Bewahren der Vergangenheit für die Zukunft. Herr Benecken, vielen Dank, dass Sie sich die Zeit nehmen. Sie arbeiten bei der Denkmalpflege in Leipzig. Können Sie uns zunächst etwas über Ihre Rolle und Ihre Arbeit berichten? Ich habe an der TU Berlin Landschaftsplanung (Landschaftsarchitektur) studiert und bin in der hiesigen Denkmalschutzbehörde für gartendenkmalpflegerische Belange zuständig. Das heißt, ich berate öffentliche und private Vorhabenträger und Antragsteller hinsichtlich aller Maßnahmen, welche auf denkmalgeschützten Freiflächen geplant sind. Ziel sind der Erhalt der denkmalrelevanten Substanz sowie des denkmalpflegerisch intendierten Erscheinungsbildes. Ist ein Vorhaben genehmigungsfähig, stelle ich im Einvernehmen mit dem Landesamt für Denkmalpflege eine denkmalschutzrechtliche Genehmigung aus oder verfasse eine Stellungnahme in einem Baugenehmigungsverfahren. Denkmalrelevante Substanz sind insbesondere die Vegetationsstrukturen einschließlich des Baum- und Gehölzbestandes, Wegeverläufe und –pflasterungen oder –befestigungen, künstlerische Ausstattungen wie Plastiken und Skulpturen, Brunnen, Teiche, Bassins und andere Gewässerstrukturen sowie bauliche Strukturen wie Freitreppen, Stützmauern, Einfriedungen, Terrassen, Pavillons und Lauben, aber auch Bänke oder Beleuchtungskörper / Laternen. Nicht nur diese Substanz steht im Fokus, sondern insbesondere auch gestalterische Gefüge, Raumstrukturen und Sichtbezüge oder –achsen. Zuständig bin ich für geschätzt 4000 Objekte mit gartendenkmalpflegerischem Belang in Leipzig, darunter beinahe alle großen Park- und Friedhofsanlagen, und Stadtplätze, viele Villengärten und Eingrünungen älterer Wohnanlagen bis hin zu als Sachgesamtheiten erfassten Siedlungen oder historischen Krankenhausgeländen, aber auch zahlreiche Vorgärten. Inhaltliche Abstimmungen sind nicht nur mit dem Denkmalfachamt, dem Landesamt für Denkmalpflege, zu führen, sondern innerhalb der Stadtverwaltung insbesondere mit dem Amt für Stadtgrün und Gewässer, der Naturschutzbehörde, dem Stadtplanungsamt oder dem Verkehrs- und Tiefbauamt. Selbstverständlich gibt es auch zahlreiche Schnittmengen mit der Baudenkmalpflege, bereits dann, wenn Sanierungsarbeiten an Gebäuden mit denkmalgeschütztem Umfeld oder Garten stattfinden. In solchen Fällen sind mindestens die Bauabwicklung und Baustelleneinrichtung im Gartendenkmal abzustimmen. Wie würden Sie den allgemeinen Zustand der Parkanlagen in Leipzig in den 90er Jahren im Vergleich zu heute beschreiben? Im Verhältnis zu den baulichen Strukturen konnten zumindest in Leipzig zur Zeit der DDR die öffentlichen Park- und Grünflächen weitaus besser unterhalten werden. Dafür wurden ausreichend Personal- und Sachmittel zur Verfügung gestellt. Dies beeinflusste den Ausgangszustand in den 1990er Jahren positiv, in denen keine schlechteren Finanz- und Pflegekapazitäten bestanden, als heute. Vielmehr unterhielt das städtische Grünflächenamt seinerzeit noch eine eigene Gärtnerei, in der Blüh- und Schmuckpflanzen herangezogen wurden. Entsprechend konnten in den 1990er Jahren noch weitaus zahlreichere Schmuckpflanzungen unterhalten werden, als derzeit. Für die verbliebenen Wechselpflanzungsflächen muss das Pflanzenmaterial heute extern beschafft werden, andere sind entfallen bzw. nun mit dauerhaften Stauden oder Wildblühstreifen besetzt. Andererseits bestanden in den 1990er Jahren verschiedentlich noch Überformungen aus der Zeit der DDR durch Einbauten wie Fernheiztrassen, Fahrspuren oder in Einzelfällen abgetrennten Flächen, etwa für das Ministerium für Staatssicherheit. Auch war die historische Gestaltung in etlichen Fällen verschliffen oder nicht erhalten. Welche Hauptprobleme oder Herausforderungen standen in der Pflege und Erhaltung der Parkanlagen in den 90er Jahren im Mittelpunkt? In den 1990er Jahren wurde bereits intensiv damit begonnen, die beschriebenen gestalterischen und strukturellen Überformungen aus der Zeit der DDR nach denkmalpflegerischen Gesichtspunkten zurückzubauen. Dafür konnte schon zur Zeit der politischen Wende ein eigenes Sachgebiet Gartendenkmalpflege im hiesigen Grünflächenamt geschaffen werden. In wieweit seinerzeit tatsächlich Tendenzen von Vandalismus zunahmen, wie manchmal behauptet wird, lässt sich nur schwer abschließend beurteilen, da solche Dinge zur Zeit der DDR zwar nicht verschwiegen wurden, aber den öffentlichen Diskurs zumindest weniger bestimmten. Sicher ist jedoch, dass zahlreiche Stadtteile in den 1990er Jahren von Bevölkerungsschwund, Deindustrialisierung und Leerstand betroffen waren. Jedoch wurden die dortigen Grünflächen bewusst nicht aufgegeben oder vernachlässigt, sondern weiter mehr oder weniger intensiv unterhalten, um einen ausgleichenden Impuls zu setzen. Inzwischen hat die Bevölkerung wieder stark zugenommen und flächendeckender Wohnungsleerstand ist kein Problem mehr. Entsprechend besteht die Aufgabe heute eher darin, einer zu starken Nutzung oder Übernutzung mancher öffentlichen Grünfläche entgegen zu wirken, sowie ergänzende und zeitgemäße Angebote zu schaffen. Ein schon seit einigen Jahren relevanter Aspekt ist, den Auswirkungen des Klimawandels entgegen zu wirken. So führten die zurückliegenden trockenen und heißen Jahre auch in den öffentlichen Grünanlagen zum Ausfall bzw. Absterben zahlreicher Gehölze, darunter insbesondere viele Altbäume. Betroffen sind komplette Pflanzengruppen wie alle Ahorne, welche durch klimatische Auswirkungen erst seit etwa zehn Jahren von der sog. Rußrindenkrankheit befallen werden. Bis auf Ausnahmen dürften in der Folge insbesondere Berg-Ahorne weitgehend aus dem Stadtbild verschwinden. Gleiches trifft auch auf die üblichen Hänge-Birken oder Fichten zu. Stark betroffen sind darüber hinaus Eschen und bedauerlicherweise sogar Rot-Buchen, welche zu den gestalterisch wichtigsten Gehölzen in zahlreichen Parkanlagen gehören. Konzeptionelle und denkmalpflegerische Aufgabe ist es nun, geeignete Ersatzpflanzungen zu organisieren, welche die Aufrechterhaltung der überlieferten und zu erhaltenden Parkgestaltungen erlauben. Hinsichtlich der Nutzung sind die Schaffung zusätzlicher verschatteter Bereiche oder des Angebots von Trinkwasser neue Aufgaben. Um Letzteres zu gewährleisten, wurde begonnen, Trinkbrunnen in den öffentlichen Grünanlagen zu installieren. Und im Gegensatz zu den Jahrzehnten nach 1990 werden seit einigen Jahren auch wieder öffentliche Toiletten im meist grün geprägten Stadtraum neu geschaffen und unterhalten. Gab es in den Jahren nach der Wende besondere Initiativen oder Projekte zur Verbesserung der Parkanlagen? Wie erwähnt, konnte schon zu Beginn der 1990er Jahre ein eigenes Sachgebiet Gartendenkmalpflege im damaligen Grünflächenamt geschaffen werden. Dieses organisierte bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Erarbeitung gartendenkmalpflegerischer Zielstellungen für die wichtigsten Parkanlagen, welche dann mit dem Landesamt für Denkmalpflege abgestimmt wurden. Diese Zielstellungen sind in weiten Teilen mit den sog. Parkpflegewerken identisch und bilden die konzeptionelle Grundlage für die Unterhaltung, Sanierung und Entwicklung von Grünanlagen. Damit übernahm Leipzig eine Vorreiterrolle durchaus auch mit Blick auf das gesamte wiedervereinigte Deutschland. Schon 1993 lag entsprechend eine denkmalpflegerische Zielstellung für den gesamten Promenadenring vor, welche nunmehr, nach über 30 Jahren, überarbeitet wird. Etliche solche Planwerke für weitere Parkanlagen folgten schon im … Weiterlesen

Der klingende Park – Tage der Industriekultur in Leipzig

Vom Ausstellungspark bis zum Leipziger Palmengarten – Park- und Gartenkultur im Zeitalter der Industrialisierung Die Veranstaltungsreihe „Der klingende Park“ ist ein Teil der Industriekulturtage in Leipzig. Sie bietet eine Reise durch die Geschichte der Gartenbaukunst in Leipzig, angefangen mit den prächtigen privaten Bürgergärten, den ersten Botanischen Garten und den ersten kommunalen Landschaftspark Deutschlands über die modernen Ausstellungs- und Freizeitparks sowie Ausflugsstätten im Industriezeitalter bis hin zu den noch erhaltenen Parkanlagen jener Zeit, die als Gartenbau- und Kulturdenkmal heute einen besonderen Schutzstatus genießen. Die Parkerrichtung war über dem ein wichtiger Faktor des städtebaulichen Wandels im Zuge der Hochindustrialisierung und des Städtewachstums in Deutschland. Zur Zeit der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung 1897 (STIGA) waren viele Leipziger Parkanlagen in ihrer Entstehung. Gut für Leipzig war es, dass die Stadtoberen 1899 eine Umsetzung öffentlicher Parkanlagen befürwortete und finanzielle Mittel dafür bereitstellte – dies kann heute als Ausdruck einer vorausschauenden und nachhaltigen Stadtentwicklung im Industriezeitalter gedeutet werden, denn diese Grünflächen dienten neben anderen wichtigen Aspekten auch zur Regeneration einer hart arbeitenden Bevölkerung. Hierzu zählen beispielsweise der Stünzer Park (1898) im Leipziger Osten, der Leipziger Palmengarten (1899) im Leipziger Westen, der Arthur-Bretschneider-Park (1900) im Leipziger Norden ebenso wie der Wilhelm-Külz-Park (1904) im Leipziger Süden und der an der Stelle des Ausstellungsparks der STIGA tretende König-Albert-Park (1904), der heutige Clara-Zetkin-Park, im Leipziger Zentrum. Sie alle dienen dem Wohl der Leipziger und ihrer Besucher, sei es zur Bildung, Erholung oder zum Vergnügen. Entsprechend lohnenswert ist ein Blick auf ihre Entstehungs- und Blütezeit, die verschiedenen Kunstformen, die diese Parks bereicherten (z.B. Architektur, Skulptur, Landschaftsgestaltung, Musik) – ganz zu schweigen von den Schicksalen einst untergegangener Oasen, die in alten Postkarten, Lithografien und Aufnahmen heute wieder lebendig werden. Unser Ziel ist es, die Vielfalt der Leipziger Park- und Gartenkultur zu beleuchten und mit dieser Veranstaltungsreihe möglichst viele Menschen zu erreichen. Wir sind davon überzeugt, dass ein besseres Verständnis der lokalen Kulturgeschichte zu einem bewussteren Umgang mit den Parkanlagen führen kann. Veranstaltungen 2024 Zu den 12. Tagen der Industriekultur in Zusammenarbeit mit dem Verein für Industriekultur Leipzig e.V. und einer Hommage an 125 Jahre Leipziger Palmengarten mit dem Historical Swing Dance Orchestra, Bühnenprogramm, Open-Air-Ausstellung, Stammtisch der Parkenthusiasten, Info-Stand und Bücherverkauf. Gäste u.a. Prof. Dr. Leder (Museumsdirektor Naturkundemuseum Leipzig), Daniela Neumann (Stadt- und Parkführerin und Hans-Joachim Hädicke (Privatsammler). **** Wann? 08.09.2024, 14:00 – 19:00 UhrWo? Musikpavillon, Clara-Zetkin-Park, Anton-Bruckner-Allee 11, 04107 LeipzigWie viele Gäste waren da? > 400 Gäste **** Veranstaltungen 2023 Zu den 11. Tagen der Industriekultur in Zusammenarbeit mit dem Verein für Industriekultur Leipzig e.V. mit dem Symphonischen Blasorchester/ ISKRA Oldstars, Bühnenprogramm, Open-Air-Ausstellung, Info-Stand und Bücherverkauf. Gäste u.a. Dr. Enrico Ruge (HTWK Leipzig), Henner Kotte und Sebastian Ringel (beide Stadtführer, Autoren). **** Wann? 03.09.2023, 14:00 – 19:00 UhrWo? Musikpavillon, Clara-Zetkin-Park, Anton-Bruckner-Allee 11, 04107 LeipzigWie viele Gäste waren da? > 500 Gäste ****

Gespräch mit Experten – Sebastian Ringel zum Wandel der Vorstädte

Sebastian Ringel ist ein erfahrener Stadtführer und Autor. Nachdem er sich bereits den verlorenen Häusern der Leipziger Innenstadt gewidmet hat, richtet er nun den Blick auf ein mehr als zehn Quadratkilometer großes Areal zwischen der Innenstadt und den eingemeindeten Dörfern – das so genannte Alt-Leipzig. In seinem neuesten Buch beschreibt er verlorene und identitätsstiftende Orte der Leipziger Vorstädte, die im Laufe der Zeit verschwanden und schafft damit ein Kompendium der ehemaligen Gartenanlagen, Ausfluglokale und Kulturstätten, aber auch ganzer Landschaften mit Seen und Flussläufen. Herr Ringel, Ihr neues Buch beschäftigt sich mit der Entwicklung der historischen Leipziger Vorstädte und behandelt 300 verlorene Orte. Was hat Sie dazu inspiriert, sich mit diesem speziellen Thema auseinanderzusetzen? Nachdem ich bereits die Innenstadt durchforstet habe, war das nächstliegende Thema, die daran anschließenden Vorstädte. Interessant erschienen mir aber auch die landschaftlichen Veränderungen in diesem zentralen Bereich der Stadt – die Überbauung der Bürgergärten, die Umgestaltung des Binnendeltas und die Urbarmachung der Grünflächen. Die Vorstädte von Leipzig haben im Laufe der Zeit erhebliche Veränderungen durchgemacht. Welche stadtplanerischen Zielsetzungen und Motive des Verschwindens haben Sie während Ihrer Recherchen identifiziert? Bis in die 1830er Jahre hinein war Leipzig eine überaus übersichtliche Kleinstadt, die sich bis dato kaum ausgedehnt hatte. Dies galt allerdings für fast alle heutigen Großstädte in jener Zeit. Erst mit der Abschaffung des Torgroschens und der wenige später erfolgten rechtlichen Gleichstellung der Vorstadtbewohner änderten sich die Verhältnisse und zwar grundlegend. Denn von nun an zog die Einwohner nicht mehr wie in den Jahrhunderten zuvor in die Innenstadt, sondern sie drängten aus dieser heraus, da sie sowohl ihre Schutzfunktion als auch ihre rechtliche Vorrangstellung verloren hatte. Zugleich boten die nun entstehenden neuen Vorstädte jede Menge Raum und damit auch Komfort. Zunächst wurden für deren Anlage die Acker- und Wiesenflächen genutzt. Das Areal der alten Vorstädte geriet jedoch ab den 1860er Jahren zunehmend in den Fokus der Investoren, da diese nun im zentralen Bereich der Stadt lagen. Als besonders lukrativ galten die Grundstücke am Ring, der auf Grund seiner Breite dem Repräsentationsbedürfnis der neu gegründeten Versicherungsgesellschaften, Großbanken oder Luxushotel entsprach. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren die allermeisten der hier stehenden Altbauten ersetzt worden. Viele der an selber Stelle errichteten Neubauten wurden dann während des Zweiten Weltkriegs zerstört. In Ihrem Buch sprechen Sie von „verlorenen Orten“ in den Leipziger Vorstädten. Könnten Sie einige dieser Orte hervorheben und uns erzählen, welche Bedeutung sie in der Geschichte Leipzigs hatten? Zwar wurden bis ins frühe 19. Jahrhundert oft nur einfache Bauten in den Vorstädten errichtet, nichtsdestotrotz existierten auch in der älteren Geschichte wichtige Gebäude hier. Dazu zählen beispielsweise die Mühlen der Stadt oder die Wasserkunst, die einen wesentlichen Teil der Infrastruktur der Stadt abbildeten. Aber auch die Hospitäler gehören dazu und nicht zuletzt die Johanniskirche, das über lange Zeit einzige Gotteshaus außerhalb der Mauern. Im 19. Jahrhundert entstanden dann aber auch diverse Kulturstätten, wie das Neue Theater, der Krystallpalast oder das Centraltheater viele große öffentliche Bauten, wie die Hauptpost oder das Buchhändlerhaus, die allerdings alle während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurden. Das Buch enthält auch umfangreiches Kartenmaterial, um die Entwicklung der Vorstädte zu veranschaulichen. Wie haben Sie diese Karten ausgewählt, und welche Erkenntnisse können Leser aus dieser visuellen Darstellung ziehen? Ausgangspunkt ist das Jahr 1860. Die Karten habe ich extra für dieses Buch angelegt. Sie zeigen die Veränderungen im Stadtbild in sechs verschiedenen Abschnitten auf, so dass ein guter Vergleich zwischen den einzelnen Zeitabschnitten möglich und die Entwicklung der Vorstädte nachvollziehbar ist. Sie halten Vorträge zu diesem Thema. Wie behandeln Sie die Geschichte der Leipziger Vorstädte der letzten 160 Jahre? Welche Schlüsselmomente haben Ihrer Meinung nach die größten Auswirkungen auf die Entwicklung gehabt? Zum einen geht es mir darum nicht mehr vorhandenen Gebäude aus der Leipziger Vergangenheit vorzustellen, ich versuche aber auch die Entwicklung der Stadt, anhand der gewählten Beispiele nachzuzeichnen. Die Sächsische Revolution von 1830/31 ist dabei sicherlich der entscheidendste Wendepunkt in der Stadtgeschichte, wobei das heutige Stadtbild in Folge auch durch andere Ereignisse geprägt wurde, wie den Zweiten Weltkrieg oder die Hinwendung zur sozialistischen Moderne Sie verwenden historische Fotografien und aktuelle Aufnahmen, um die Entwicklung der Vorstädte zu veranschaulichen. Welche besonderen Geschichten oder Ereignisse werden Sie in Ihrem Vortrag hervorheben, um den Zuhörern einen Einblick in die faszinierende Geschichte dieses Gebiets zu bieten? Ich muss zugeben, dass ich recht spontan bin, wenn es um das Erzählen kleinerer Episoden oder Ereignisse geht. Es kommt auch immer darauf an um was für eine Art von Vortrag es sich handelt. Meist versuche ich auf die Bauten oder Ereignisse einzugehen, die in direkter Umgebung zum jeweiligen Veranstaltungsort liegen oder die thematisch passen. Die Umgestaltung der Leipziger Vorstädte hat sowohl Gebäude als auch ganze Landschaften betroffen. Für Sie als Stadtführer und Autor, welche Erkenntnis haben Sie aus Ihrer Arbeit gewinnen können? Besonders bemerkenswert finde ich mit welchem Aufwand das Flusssystem umgestaltet wurde. Ebenso erstaunlich ist, das alle alten Bürgergärten Alt-Leipzigs bereits im frühen 20. Jahrhundert komplett überbaut worden sind. Anderseits ist Leipzig heute eine Stadt in der, insbesondere westlich des Stadtkerns, noch große naturbelassene Räume existieren, also nicht nur Parkanlagen, sondern auch Wald- und Auwaldflächen. Dies allerdings ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass Leipzig nach 1930 über sieben Jahrzehnte nicht mehr gewachsen ist. Mehr erfahren Sie in meinem Buch, in Vorträgen oder während meinen Stadtführungen. Aktuelles: www.sebastian-ringel.de © 2023 is licensed under CC BY-NC-SA 4.0 Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen

Gespräch mit Experten – Dr. Sacha Szabo zu den Luna-Parks

Dr. Sacha Szabo, Popsoziologe am Institut für Theoriekultur in Freiburg, ist seit langem anerkannter Unterhaltungswissenschaftler. Er promovierte mit einer Arbeit über Jahrmarktsattraktionen und hat seitdem mehrere Publikationen zu anderen Vergnügungswelten veröffentlicht. Er ist einer der führenden Forscher über Festkultur in Deutschland, das ihn zu einem gefragten Experten für Funk und Fernsehen und andere Medien gemacht hat. Herr Szabo, Sie beschäftigen sich mit der Geschichte der Luna Parks. Wie kamen Sie dazu und was hat Sie dazu bewogen, ein Buch darüber zu schreiben? Mein Interesse an den alten Luna Parks entstand durch meine Dissertation als ich mich mit den verschiedenen Festplätzen beschäftigte und bei meiner Recherche auf eine Reihe alter Ansichtskarten von deutschen Luna Parks stieß. Daraus entstand 2008 in Zusammenarbeit mit Claudia Puttkammer ein erstes kleines Büchlein. Unser Interesse galt dabei in erster Linie gar nicht so sehr der Geschichte der einzelnen Parks, die für einige Parks in verschiedenen Monographien bereits aufgearbeitet wurde, wie etwa der schönen Broschüre von dem Bürgerverein Möckern/ Wahren. Wir wollten vielmehr diese untergegangene Vergnügungskultur als Gesamtphänomen abbilden und zeigen, dass die vielen einzelnen Parks Teile einer Gesamtkultur waren. Aus diesem kleinen Buch entwickelte sich dann über die Jahre der große Bildband, der 2018 erschien. Welche Erkenntnisse haben Sie beim Schreiben Ihres Buchs gewinnen können? Es ist eine untergegangene verschwundene und fast vergessene Vergnügungswelt, die einerseits eine europäische Parkkultur mit den aus den USA stammenden Vergnügungsvierteln wie Coney Island verband, und zugleich Impulsgeber für die nach Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entstehenden Freizeitparks wurde. Es zeigt aber auch, wie schnelllebig moderne Massenkultur sein kann, die in dem einen Moment omnipräsent scheint und bereits im nächsten fast spurlos verschwunden ist. Welche Idee stand hinter dem ersten Luna Park und wie hat sich das Konzept im Laufe der Zeit entwickelt? Ein Impulsgeber der deutschen Luna Parks ist Coney Island, ein New York vorgelagertes und bis heute bestehendes Vergnügungsviertel. Ab Ende des neunzehnten Jahrhunderts siedelten sich dort die ersten Vergnügungsparks an. Das Besondere war, dass zeitweilig mehrere Parks nebeneinander existierten und sich durch die gegenseitige Konkurrenz überboten. Dies setzte eine Kettenreaktion des Vergnügens in Gang, so dass dieser Ort zum Nukleus moderner Vergnügungskultur wurde. Aber Coney Island war nur ein Einfluss, ein weiterer ist in der europäischen Parkkultur zu finden, da viele der adligen Lustgärten im Beginn der Neuzeit nicht mehr nur ein exklusives adliges Vergnügen waren, sondern auch für das „gemeine“ Volk geöffnet wurden. Dies wird in den Luna Parks insofern sichtbar, als dass die Attraktionen nicht so dichtgedrängt wie auf Coney Island angeordnet waren, sondern großzügiger mit dem verfügbaren Raum umgegangen wurde. Welche Rolle spielten die Luna Parks im Stadtbild und haben sich diese Standorte im Laufe der Zeit verändert? Die Luna Parks entstanden häufig aus größeren Ausflugslokalen mit eigenen Parkanlagen, die am Stadtrand angesiedelt waren. Diese erweiterten nach und nach ihr Angebot um technische Attraktionen, wie etwa eine Berg- und Talbahn, also eine Art Holzachterbahn, die zudem noch in eine Kulisse integriert war. Der Höhepunkt dieser Vergnügungsorte war im ersten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts, wobei bereits der Erste Weltkrieg eine Zäsur war und die Weltwirtschaftskrise für viele Parks, die zudem auch unter der Konkurrenz der boomenden städtischen Angebote litten, das Aus bedeutete. Geblieben ist von den Parks wenig, manchmal ein Straßenschild, manchmal noch Gebäude wie in Leipzig, manchmal auch nur die Erinnerung und eine große Zahl Ansichtskarten. Welche Bedeutung hatten die Luna Parks für die Gesellschaft? Die Luna Parks waren eine Gegenwelt in der der Alltag nicht nur verdrängt, sondern vergessen werden konnte. Spannend ist dabei, dass die Gestaltung häufig mit einer idealisierten Naturidylle spielte, als ein Gegenentwurf zur urbanen und industrialisierten Moderne. Aber das, was wir heute mit einem Ausflug in die Natur verbinden, also Entschleunigung, Stille und Kontemplation, nicht realisierte, sondern im Gegenteil, die Luna Parks waren ein rauschhaftes Abenteuerland. Viele Vergnügungsangebote, die später ein Teil der städtischen Unterhaltungsbranche waren, wurden hier häufig erstmals einem breiten Publikum dauerhaft präsentiert. Aber das Abenteuer bezog sich nicht allein nur auf die technischen Attraktionen, es war auch ein Ort amouröser Abenteuer. Denn die Parks boten viele gute Möglichkeiten jemanden, etwa beim Tanz kennen zu lernen und dann eine aufregende gemeinsame Zeit zu verbringen. Was unterscheidet die Luna Parks von den heutigen Kleinmessen? Die Unterhaltungsangebote! In allen Parks war das gastronomische Angebot deutlich größer als auf einer Kirmes. Gastronomie bedeutet dabei nicht Verpflegungsstände, sondern vor allem Vergnügungsorte. Speisesäle, Tanzsäle und Ballsäle bildeten die Zentren und die Attraktionen ergänzten dieses Angebot, oder intensivierten es vielmehr. So dass man, nachdem man sich beim Tanzen kennengelernt hat, die aufkommenden Gefühle bei der Fahrt auf der Berg- und Talbahn intensivieren und diese dann den Blicken entzogen in der Zweisamkeit einer nächtlichen Bootsfahrt vertiefen konnte. Welche Erkenntnisse haben Sie über die Luna-Parks, die es in Leipzig gab? Es gab in Leipzig drei Parks. Neben dem großen in Leipzig-Wahren, noch die Parks in Meusdorf und Böhlitz-Ehrenberg. Letzterer wirkt auf den alten Ansichtskarten mehr wie eine Großgastronomie mit verschiedenen Tanzsälen. Der Park in Meusdorf entwickelte sich aus einem Ausflugslokal, das im Rahmen des Jubiläums der Völkerschlacht großen Zuspruch erhielt, zwar wurde auch dieser Park um einige Attraktionen wie etwa einem Diorama und vor allem einem Aussichtsturm erweitert, aber insgesamt wirkt dieser Park im Vergleich mit dem Park in Leipzig Wahren, eher wie eine Erlebnisgastronomie. Von den Parks ragt für mich der Park in Leipzig-Wahren auf eine besondere Art heraus. Nicht allein wegen seiner Attraktionen, die es vergleichbar auch in anderen Parks gab, sondern weil er an diesem riesigen See angelegt wurde und mit diesem auch selbstbewusst warb. An diesem See zeigte sich eine Badekultur, zumal dieser bereits Heimat von Sport- und Schwimmvereinen war, die auf den Abbildungen der anderen Parks so nicht sichtbar wird und an die Seebäder in Blackpool und natürlich auch auf Coney Island erinnert. Badespaß als Vergnügungsangebot, Schwimmen als Attraktion, das ist, was für mich den Leipziger Park in Wahren im Vergleich zu den anderen Luna Parks auszeichnet. Er wirkt in der Rückschau wie ein früher Urahn der heutigen Badewelten und Erlebnisbäder. Mehr Informationen erfahren Sie in meinem Buch. Aktuelles: www.sacha-szabo.de, www.institut-theoriekultur.de … Weiterlesen

Gespräch mit Experten – Michael Liebmann zum Brandvorwerk

Michael Liebmann hat mit seinen Recherchen über das Leipziger Brandvorwerk die Geschichte eines nahezu vergessenen Ortes wieder zum Leben erweckt und ein gut lesbares Buch geschrieben, das auf Grundlage akribischer Archivrecherche qualitative Maßstäbe zur Erforschung der Stadtgeschichte setzt. Dabei stellte er unter anderem heraus, wie die Besitzer des Vorwerks über die Jahrhunderte hinweg mit den Rechten und Privilegien jonglierten, wie der Ort mit der Siedlungsgeschichte und den Calvinistensturm in Leipzig verknüpft ist. Er verdeutlicht anschaulich, welchen Anteil das Brandvorwerk für die Entwicklung der heutigen Südvorstadt hatte. Empfehlenswert nicht nur für Geschichtsinteressierte, sondern für alle, die die Vergangenheit anhand historischer Quellen aus einer anderen Perspektive entdecken wollen. Herr Liebmann, Sie haben sich mit der Geschichte des Brandvorwerks in Leipzig beschäftigt und ein Buch geschrieben. Wie kamen Sie dazu, was hat Sie dazu bewogen, zur Lokalgeschichte zu forschen? Von Hause aus bin ich Gymnasiallehrer für Geschichte, Politik und Deutsch, arbeite aber seit nunmehr 15 Jahren als freier Autor, schreibe Fachartikel und Sachbücher und arbeite aktiv im Bürgerverein Pro Leipzig e.V. mit. In meinen Texten geht es meist um die Vorgeschichte nach Leipzig eingemeindeter Orte. Meiner Meinung nach lag das Hauptaugenmerk der Geschichtswissenschaft früher etwas zu sehr auf Alt-Leipzig. Dies ist natürlich nachvollziehbar und generiert auch eine größere Leserschaft. Aber die Historie der im 19. und 20. Jahrhundert angeschlossenen Gemeinden kam mir da zu kurz, steht erst seit den Forschungen zur vierbändigen Stadtgeschichte um 2015 mehr im Fokus. Das begrüße ich sehr, denn was gibt es Spannenderes, als den Kontrast von Stadt und Dorf zu beschreiben und die komplexen Stadt-Vorort-Beziehungen zu erforschen? Jemand, der in Böhlitz-Ehrenberg wohnt, hat doch ein ganz anderes Leipzig-Bild als ein Innenstädter. Die Leipziger Identität ist doch die Summe der Erfahrungen aller Bürgerinnen und Bürger – ob sie im Zentrum wohnen oder in der Peripherie. Das ist es, was mich interessiert. Der Marktplatz dagegen ist schon tausendmal beschrieben und bebildert. Ihr Buch widmet sich dem Brandvorwerk und den Anfängen der Leipziger Südvorstadt. Könnten Sie uns einen Einblick in die Entstehungsgeschichte geben und erklären, was Sie dazu inspiriert hat? Als ich 2008 nach vier Jahrzehnten Abwesenheit in meine Geburtsstadt Leipzig zurückzog, verschlug es mich in die Südvorstadt. Und weil ich den inneren Drang habe, von jedem Ort, an dem ich mich länger als eine Stunde aufhalte, auch die Historie zu erkunden, war es natürlich ganz selbstverständlich, mich auch mit meinem direkten Wohnumfeld zu beschäftigen. Da kam ich dann auch an einem Schild mit dem Namen „Brandvorwerkstraße“ nicht vorbei. Eine Straße, die nach einem Vorwerk benannt ist? Das klang interessant. Darüber wollte ich mehr erfahren. Aber die Suche nach Informationen in der einschlägigen Literatur enttäuschte: Das Brandvorwerk kam nirgends vor oder wurde nur in knappen Fußnoten abgetan. Ich habe mich damals dort sogar einen Samstag-Nachmittag an eine Straßenecke gestellt und über 60 Passanten gefragt, was es mit diesem Vorwerk auf sich hat. Nur einer konnte mir grob eine Antwort geben. Da dachte ich: Okay, muss ich das eben selber machen. Das Brandvorwerk ist vielen Menschen heute weniger bekannt. Könnten Sie uns kurz erläutern, warum der Ort in der Geschichte Leipzigs eine bedeutende Rolle spielte? Gab es mehrere dieser Orte? Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nannte man einen landwirtschaftlichen Gutshof, der sich außerhalb einer Burg oder Befestigungsanlage befand, ein Vorwerk. Und weil das Wort Bürger von Burg kommt, bezeichneten die Leipziger die ihnen gehörigen Gutshöfe vor den Toren der Stadt ebenfalls als Vorwerke. Davon gab es allerdings mehrere, diesbezüglich war das Brandvorwerk nichts Besonderes. Außergewöhnlich – und heute fast vergessen – ist allerdings der Fakt, dass dieser Gutshof den Großteil der Flur eines wüst gefallenen Dorfes besetzte. Dieses einst von den Slawen gegründete und wohl Ende des 14. Jahrhunderts verlassene Lusitz ist heute noch weniger Leuten bekannt als das Brandvorwerk – an diesen Leipziger Vorort erinnert nicht einmal ein Straßenname. Und doch handelt es sich dabei um die historische Wurzel der heutigen Südvorstadt. Die umfasst heute ein Gebiet von etwa 2,5 km2, aber im Hochmittelalter war die Lusitzer Gemarkung sogar 3,2 km2 groß. Das bedeutet, dass sich Leipzig und Connewitz Teile davon einverleibt haben müssen, nachdem die letzten Lusitzer Bauern ihr Dorf verlassen hatten. Land und Leute gehörten übrigens seit Mitte des 13. Jahrhunderts dem Leipziger Nonnenkloster St. Georg. Dazu zählte auch eine Wassermühle, die in etwa dort stand, wo sich heute der kleine Dürrplatz befindet: westlich der Kreuzung Wundt- und Kurt-Eisner-Straße. Das Kloster seinerseits stand im Schatten der Pleißenburg und also fast zwei Kilometer nördlich der Mühle. Deshalb baten die Nonnen den Landesherrn und die Stadt im Jahr 1287, den Pleißemühlgraben bis nach Lusitz zu verlängern und die Mühle direkt ans Kloster versetzen zu dürfen. Die Nonnenmühle existierte dann dort, vis a vis der Pleißenburg, noch bis 1890. Den Pleißemühlgraben gibt es, teils verrohrt, teils wieder geöffnet, noch heute. Von seiner Verbindung mit Lusitz wissen nur wenige. Im Übrigen haben die Georgennonnen dann im 15. Jahrhundert auf der verlassenen Lusitzer Flur eine Schäferei eingerichtet. Seitdem besetzte also ein Vorwerk eine Dorfgemarkung. Ein solches Rechtskonstrukt gab es auch im wüst gefallenen Pfaffendorf, auf dessen Flur sich heute der Leipziger Zoo ausbreitet. Ihre Forschung basiert auf umfangreichen Archivrecherchen. Könnten Sie uns etwas über die Quellen und Materialien erzählen, auf die Sie während Ihrer Arbeit gestoßen sind und wie Sie diese genutzt haben? Als ich wegen des Buches den Sommer 2011 im Stadtarchiv und Staatsarchiv verbrachte, war die Quellensuche noch viel beschwerlicher als heute. Die Aktentitel waren noch nicht digital eingepflegt. Man konnte nicht einfach „Brandvorwerk“ in eine Suchmaschine eingeben und die vorhandenen Titel einsehen. Stattdessen galt es, dutzende handgeschriebene Katalogbücher auf Hinweise zu durchforsten. Das gestaltete sich schwierig, weil die Findmittel im Stadtarchiv und im Stadtgeschichtlichen Museum nach Stadtteilen geordnet waren – und da kam „Brandvorwerk“ gar nicht vor. Der Ort war derart in Vergessenheit geraten, dass ihn nicht einmal die Archivare auf dem Zettel hatten. Ich musste also mühselig sämtliche Akten auf Verdacht anfordern und durchsehen, die irgendwie das Wort Vorwerk beinhalteten. Eine Sisyphusarbeit. Heutzutage sind die Archive viel benutzerfreundlicher. Da braucht man nur noch das Schlagwort Brandvorwerk eingeben … Weiterlesen

Gespräch mit Experten – Joana Brauhardt zur Insel Buen Retiro

Joana Brauhardt ist eine passionierte Kunsthistorikerin, deren akademischer Werdegang sich an der Schnittstelle von Kunst- und Gartengeschichte sowie der Museumsarbeit bewegt. Im Rahmen eines Forschungsprojekts ihrer Hochschule beschäftigte sie sich intensiv mit der Geschichte einer Leipziger Insel im 19. Jahrhundert, die unter dem Namen Buen Retiro bzw. Schimmels Gut bestens bekannt war. In ihrem Fachbeitrag beleuchtet sie die Ursprünge und die stadtgeschichtliche Relevanz dieses Ortes, seiner Beschaffenheit und Eigentümer sowie die Freizeitaktivitäten und zeigt auf, wie die urbane Entwicklung der Stadt zur Aufgabe dieses beliebten Areals beigetragen hat. Frau Brauhardt, Sie haben sich mit einem besonderen Thema beschäftigt. Die Leipziger Gartenkultur bietet eine Menge spannender Geschichten und Entdeckungen. Was hat Sie motiviert, gerade dieses Thema auszuwählen? Mit den Leipziger Gärten und der Insel Buen Retiro habe ich mich während meines Kunstgeschichtsstudiums beschäftigt. Anlass war ein Projektmodul, in dem wir über die verschiedenen Leipziger Gärten und Ausflugsziele zu jener Zeit forschten. Die spannenden Ergebnisse, die wir dabei entdeckten, wurden erfreulicherweise in einem schönen bebilderten Buch mit hoher Druckqualität 2019 veröffentlicht. Als Kind wollte ich schon immer Detektivin werden, nun bin ich leidenschaftliche Kunsthistorikerin, was diesem Wunsch sehr nahekommt. Könnten Sie uns zunächst erklären, was der Buen Retiro war und welche Bedeutung dieser Ort im 19. Jahrhundert für die Bewohner von Leipzig hatte? Der Buen Retiro befand sich inmitten des Schimmelschen Guts und war im 19. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugsziel. Das riesige Areal zog sich zwischen der heutigen Beethoven- bis zur Paul-Gruner Straße und war bis zu 100 Acker groß. Es war eine Insel, die in eine Gartenanlage mit mehreren Teichen integriert war, auf denen man beispielsweise Boot fahren konnte. Sie war entweder mit einem Kahn oder über eine Brücke erreichbar. Auf ihr gab es Gastwirtschaften wie ein Fischrestaurant und später eine Kegelbahn. Es wurden Veranstaltungen, etwa Konzerte, angeboten und im Winter war Schlittschuhlaufen der letzte Schrei. Die später bewusst verwilderte Anlage war außerdem ein Geheimtipp für Frischverliebte gewesen. Die Bezeichnung Buen Retiro hat einen spanischen Ursprung und bedeutet „Guter Rückzugsort“. Warum wurde dieser Name für die Insel in Leipzig gewählt und wie können wir uns diese vorstellen? Es ist in der Tat überraschend, dass sich ein solcher Ort in Leipzig finden lässt. Der Buen Retiro war ursprünglich ein Park in Madrid, der sich im Laufe der Zeit als beliebter Volkspark für alle sozialen Schichten entwickelte. Dort gab es ebenso Gastwirtschaften, Kunstausstellungen, Teiche zum Bootfahren und ein Tanzlokal. Es gibt allerdings keine nachweisbaren Bezüge zwischen ihm und Leipzig, sodass man davon ausgehen sollte, dass der spanische Name eher eine geschickte Marketing Strategie gewesen sein könnte. Die Geschichte des Ortes ist eng mit den verschiedenen Eigentümern verbunden. Könnten Sie uns mehr über die Entwicklung des Ortes berichten? Das Areal war im Besitz von unterschiedlichen Familien und läuft daher unter mindestens vier verschiedenen Namen. Seit dem 16. Jahrhundert betrieben dort geschäftige Nonnen einige Fischteiche, eine Mühle und ein Vorwerk. Im 18. Jahrhundert befand es sich im Besitz der Kaufmannsfamilie Frege (deren Nachfolger der Sänger Campino ist), die es von dem Universitätsrektor Johann Christian Schamberg erwarben. Christian Gottlob Frege vererbte das Grundstück interessanterweise nicht an den ältesten Sohn, sondern an seine Tochter Christiane Eleonore, verheiratete Krumbhaar. Das war zu dieser Zeit mehr als unüblich, doch bei den Freges gängig. 1788 verkaufte sie bzw. ihr Ehemann das Grundstück. Es wechselte in der Folgezeit mehrmals den Besitzer, 1823 ging es an Friedrich Wilhelm Schimmel über, 1857 an Friedrich August Voigt, einem Konkurrenten Karl Heines, bevor es in den 1880er Jahren endgültig überbaut wurde. Das Gut musste schlussendlich dem Druck der wachsenden Stadt und dem steigenden Bedarf an Wohnraum weichen. Übrigens, während der Völkerschlacht war dort ein französisches Lazarett stationiert. Das Gut ist folglich eng mit der Stadtgeschichte verwoben. Es war ein großes Gebiet, das durch den Pleißemühlgraben in zwei Bereiche unterteilt und nur über drei Brücken zugänglich war. Im Oberen befand sich ein Lust- und Kuchengarten, der im französischen Stil angelegt war, im unteren Teil gab es vier Fischteiche. Später wurden zwei von ihnen zusammengelegt und eine Insel aufgeschüttet. So entwickelte sich der Ort im Laufe der Zeit zu einem der beliebtesten Ausflugsziele Leipzigs. Obwohl es ein wichtiger Ort für die lokale Geschichte ist, finden sich heute keinerlei Spuren mehr davon im Stadtraum. Eigentlich schade. Ein Unglücksfall im Jahr 1842, bei dem der Holzsteg zusammenbrach, hatte für Aufsehen gesorgt. Haben Sie über dieses Ereignis etwas herausfinden können? Der Unfall ereignete sich nach einem Konzert. Die Gäste drängelten sich auf dem Steg, um das anschließende Feuerwerk anzuschauen. Die Konstruktion hielt das Gewicht der Massen leider nicht mehr aus und brach ein. Zum Glück gab es keine schwerwiegenden Verletzungen, jedenfalls habe ich keine Berichte dazu gefunden. Zum Abschluss gestatten Sie die Frage, inwieweit hat diese Arbeit Ihre Sicht auf die Gartenkultur und die historische Entwicklung Leipzigs beeinflusst? Für mich war die Recherche zum Schimmelschen Gut eine spannende Auseinandersetzung mit der Leipziger Stadtgeschichte und der urbanen Entwicklung der Stadt in der ich lebe. Die Erforschung des Themas war ein spannendes Projekt, in dem ich tief in die Archive und zeitgenössische Berichte eintauchen musste. Auch fachlich hat es mich weitergebracht. Erstmals konnte ich alle Fertigkeiten, die das Studium im Institut für Kunstgeschichte an der Universität in Leipzig mir vermittelt hatte, anwenden. Mehr erfahren Sie in dem schönen Buch, das auch in der Bibliothek zu finden ist. © 2024 is licensed under CC BY-NC-SA 4.0 Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen

125 Jahre STIGA in Leipzig – Ein Konsum-Spektakel für Millionen

Die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung zog 1897 im Herzen Leipzigs ein Millionenpublikum in ihren Bann. Wirtschaftlich war das Großevent ein Verlust. Doch aus heutiger Perspektive ist es Sinnbild für den gesellschaftlichen Wandel, der Leipzig und die Welt im 19. Jahrhundert erfasste. Die größte innenstadtnahe Parkanlage Leipzigs ist kein Landschaftsgarten oder Schlosspark – und das sieht man auch. Eine breite Allee durchzieht den Clara-Zetkin-Park, links und rechts gehen Rundwege ab, führen zu kleinen Pavillons oder eingefassten Teichen. Vor 125 Jahren befand sich hier das Ausstellungsgelände für ein Wirtschafts- und Volksfest mit Millionenpublikum: Die Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbeausstellung (STIGA). Zu ihr heißt es in den Ratsakten der Stadt Leipzig: „Und wäre kein anderer Nutzen von der Ausstellung zu erwarten als diese herrliche Morgengabe ihres Parkes, die sie der Stadt darbringt, wahrlich es wäre schon groß und bedeutend genug.“ Mit den Ausmaßen und der Infrastruktur einer Kleinstadt setzt die STIGA ein Zeichen in einer vom jähen Wandel gekennzeichneten Zeit. Die Stadt Leipzig befand sich damals, als viertgrößte deutsche Stadt, im Umbruch von der Handels- zur Industriestadt und dehnte sich verstärkt auf umliegende Gemeinden aus, die Bevölkerungszahl stieg sprunghaft an, die Leipziger Messe wandelte sich von einer Waren- zu einer Mustermesse. Im Jahr des vierhundertjährigen Jubiläums der Leipziger Messe wird 1897 mit der STIGA die Werbetrommel geschlagen für die mitteldeutsche Region mit Leipzig als Zentrum und für die neue Form der Mustermesse. Dafür werden zuerst die vorgesehenen Wiesen zwischen Scheibenholz und Johannapark trockengelegt und an die städtische Infrastruktur sowie an die Eisen- und elektrische Straßenbahn angebunden. Reichstagserbauer Paul Wallot, Gabriel von Seidl und Hugo Licht wählen als Juroren mehrere Leipziger Architekten für die Bebauung aus. Sie errichten neun Ausstellungshallen sowie mehrere Themenbereiche. In vielem orientieren sie sich an der großen Berliner Gewerbeausstellung des Vorjahres und an den Weltausstellungen früherer Jahre. Zum Ausstellungsbetrieb gehören Verwaltungsbauten, Feuer-, Polizei- und Sanitätswachen sowie die Poststation. Wie auf der Weltausstellung in Chicago 1893 strahlt das Gelände samt einer 40 Meter hohen Ausstellungsfontäne abends im Schein tausender farbiger Glühbirnen. Der Strom dafür wird in einer „elektrischen Kraftzentrale“ produziert, die den Dampf ausgestellter Dampfmaschinen nutzt. Gastronomische Angebote auf dem gesamten Gelände summieren sich auf rund 10.000 Sitzplätze. Aufwendige Rekonstruktionen zeigten ein Altleipziger Messviertel, die Wartburg oder ein Tiroler Schloss. Für ein Thüringer Dorf wurden Gebäude aus Thüringen umgesetzt und sogar eine Kirche nebst Friedhof errichtet. Ganz in der Nähe steht ein weiteres architektonisches Highlight: Vor der Industriehalle wird die Turmhaube der gerade im Bau befindlichen Reformierten Kirche zu Leipzig präsentiert. Sie erzielt drei Jahre später auf der Weltausstellung in Paris 1900 einen Ersten Preis. Ein großer Anziehungspunkt im Unterhaltungsviertel ist der Fesselballon des französischen Ballonpioniers Louis Godard, der den Aufenthalt in der Messestadt auch für neue Weltrekorde nutzt. Eine nach dem Vorbild der Berliner Ausstellung von privaten Organisatoren initiierte Kolonialausstellung mit sogenannter Völkerschau offenbart rassistische Stereotype, koloniale Interessen sowie den nationalistischen Geist des Wilhelminischen Zeitalters und damit die problematischen Facetten der STIGA. Legitimation und Repräsentation bestehender Herrschaftsverhältnisse sind Grundmotive vieler Ausstellungen. Auf dem Gelände verteilte Herrscherstatuen, Symbole und inszenierte Festakte wie die Eröffnungszeremonie mit dem Schirmherren König Albert von Sachsen unterstreichen dies. Ein anderer Kritikpunkt wird schon von Zeitgenossen wie Georg Simmel oder Walter Benjamin diskutiert: die subtile Erziehung zum Konsumismus. In der damaligen breiten Öffentlichkeit wird allerdings zuvorderst der Beitrag solcher Ausstellungen zu technischer und ästhetischer Bildung unterstrichen. So finden anlässlich der STIGA zahlreiche Tagungen und Kongresse statt und in den Ausstellungshallen begleiten Ingenieure sachkundig die Vorstellung von Produktionsprozessen. Auch die kommunalen und landesstaatlichen Bildungseinrichtungen sind mit umfangreichen Ausstellungen vertreten. Darunter finden sich mit der „Königlich Sächsischen Baugewerkenschule zu Leipzig“ und der „Königlichen Kunstakademie und Kunstgewerbeschule zu Leipzig“ auch zwei Vorgängereinrichtungen der HTWK Leipzig. Zu den technischen Innovationen, die dem Publikum nahegebracht werden, gehören Anwendungen für Gas oder Elektrizität. In einem Pavillon des Würzburger Professors Wilhelm Conrad Röntgen können sich Ausstellungsgäste für einige Groschen die Hände durchleuchten lassen. Der elektrisch betriebene Fahrstuhl zur Aussichtsplattform der „Wartburg“ ist seit seiner ersten Präsentation durch Elisha Otis auf der New Yorker Weltausstellung 1854 keine wirkliche Neuheit mehr. Origineller sind da Grammophone, Kinematographen oder die neuartige Rotationsdruckpresse von König & Bauer, auf der die tägliche Ausstellungszeitung in zehntausend Exemplaren gedruckt wird. Überhaupt ist das Druck-, Buch- und Pressewesen stark präsentiert. Noch stärker sind allerdings das besonders in Leipzig und Chemnitz beheimatete Maschinen- und Transportwesen und die Textilbranche vertreten. Von den 3.027 Ausstellern kommen 1.416 Firmen aus Leipzig. Neunzig Prozent der Leipziger Firmen jener Zeit haben bis zu zehn Angestellte und so sind es zumeist klein- und mittelständische Unternehmen, denen durch die Form einer Kollektivausstellung die Teilnahme möglich ist. Viele von ihnen werden mit einer der begehrten und an fast die Hälfte der Unternehmen vergebenen Ausstellungsauszeichnungen belohnt. Als Insignien von Produktqualität und Glaubwürdigkeit finden sie sich zum Teil bis heute auf Produktverpackungen. Achten Sie beim nächsten Radeberger Biergenuss mal auf das Etikett. Ein „Jahrhundert der Ausstellungen“ – Der Schriftsteller Ernest Renan verglich die Ausstellungen einst mit den Olympischen Spielen. Tatsächlich schienen sich im 19. Jahrhundert Städte, Regionen und Staaten mit immer sensationelleren und kostspieligeren stellungen gegenseitig überbieten zu wollen. Zuerst waren sie jedoch ein reines Mittel der Gewerbeförderung, auf das auch der sächsische Staat ab 1824 neben der Förderung von Gewerbeschulen und „Vorbildersammlungen“ zurückgriff. Bis zur Mitte des Jahrhunderts blieb der Erfolg der Veranstaltungen im Hinblick auf Produktvielfalt, Aussteller- und Gästezahlen recht bescheiden – das galt selbst für die dritte deutsche Nationalausstellung 1850 in Leipzig. Erst als infolge der ersten Londoner Weltausstellung 1851 das „Ausstellungsfieber“ grassierte und engagierte Wirtschaftsbürger – zu denen neben Kaufleuten, Handwerkern und Fabrikanten auch Forschende oder Lehrende gehörten – mittels ihrer „Gewerbevereine“ die Veranstaltungen organisierten, nahm die Sache Fahrt auf. Unter Einbindung staatlicher und kommunaler Interessen trugen die entstehenden Handels- und Gewerbekammern aktiv dazu bei, dass aus provinziellen Leistungsschauen nun massentouristische Volksfeste und Kommunikationsplattformen wurden. Massenpresse und Massentourismus, bessere Verkehrsmittel und -verbindungen ließen gemeinsam mit ausgefeilten Marketingstrategien das 19. Jahrhundert tatsächlich zu einem „Jahrhundert der Ausstellungen“ werden. Zu den unzähligen Printprodukten der Veranstaltungen gehörten beispielsweise die offiziellen Ansichtspostkarten, von denen allein auf der STIGA 2,5 Millionen Stück verkauft wurden. Um … Weiterlesen

Gespräch mit Experten – Dr. Enrico Ruge-Hochmuth zur STIGA

Dr. Enrico Ruge (vorm. Hochmuth) beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit den Themen der Industriekultur und speziell mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Sein Buch gibt erstmals einen Gesamtüberblick über das sächsische Ausstellungswesen bis ins 20. Jahrhundert hinein und ordnet diese in einen regionalen, nationalen und internationalen Kontext ein. Dr. Ruge, Sie beschäftigen sich mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Was erzählen Sie Jemandem, der noch nichts über die Gewerbeausstellungen gehört hat? Welche Bedeutung würden Sie der STIGA 1897 in Leipzig zusprechen? Das es ab dem frühen 19. Jahrhundert viele Schauen gab, die zu Volksfesten wurden. Sie verbanden Industrie und Kultur miteinander und prägen unser Konsumverhalten bis heute. Denn dort wurde diskutiert und ausgezeichnet, was „schön“ oder was „funktionell“ ist, die Gesellschaft für den Umgang mit Design sensibilisiert. Auch regionale Produktmarken, wie „Plauener Spitze“, „Bautzner Senf“ oder „Glashütter Uhren“ wurden durch diese Veranstaltungen nachhaltig verfestigt. Aber der Bildungsaspekt spielte auch eine Rolle, um Ängste vor der technisierten Welt abzubauen. Der Industriemensch tickt anders und sollte gut funktionieren. So konnte das Produkt und oft auch dessen Herstellungsweise direkt erfahren und manchmal auch in kulturelle Zusammenhänge eingebettet erlebt werden. Die während der Ausstellung täglich erscheinende Ausstellungszeitung druckte man beispielsweise vor den Augen der Besucher auf einer neuartigen Rotationsdruckmaschine. Heute tanzen Menschen nach dem Sound der Maschinen „Techno“ und betrachten maschinell hergestellte Massenprodukte als Kunstform, die zumeist trivial anmutenden Massenprodukte werden bis heute zum einzigartigen Kulturerlebnis stilisiert. Warum gab es so viele Preise? So viel Aufwand im Auf- und Abbau für einen Ausstellungszeitraum von sechs Monaten? Die Aussteller waren zumeist kleine und mittelständische Produzenten und Gewerbetreibende. Sie wollten neue Konsumenten gewinnen und Ausstellungsmedaillen bekommen. In vielen Kategorien wurden solche Preise vor Ort vergeben, um sie anschließend werbewirksam für den Verkauf einzusetzen. Schauen Sie mal auf eine Becks- oder Radeberger-Flasche, da finden Sie auf dem Etikett noch heute die Medaillen. Die Besucher aus dem näheren und weiteren Umland kamen freilich auch, weil ihnen Superlative und außerordentliche Erlebniswelten versprochen wurden. So wurde das „Thüringer Dorf“ mit Kapelle, Friedhof und allem was so dazu gehört nachgebaut und von kostümierten Schaustellern bevölkert, im Ausstellungsteil „Deutsch-Ostafrika“ wurden sogar – auch damals schon war das nicht unumstritten – „echte Eingeborene“ zur Schau gestellt. Für die Besucher war das Reisen durch inszenierte Welten, die sie in der Realität kaum hätten erleben können, ein Highlight. Gibt es Parallelen zum heutigen Streben nach überregionalem Prestige? Der urbane Wettstreit hat in den letzten einhundert Jahren nicht abgenommen. Leipzig will sich nach wie vor als Handels- und Kongressmetropole überregional etablieren und sucht Wege und Möglichkeiten sich international zu profilieren. Trotz aller Virtualität existieren noch immer kleinere, thematisch sehr fokussierte Formate, die genauso direkt auf das Konsumverhalten abzielen. Die „Eventisierung“ spielt dabei nach wie vor eine große Rolle. Vordergründig wollten die Bürger, da hat sich bis heute nichts geändert, gut unterhalten werden. 2022 begeht Leipzig das 125-jährige Jubiläum der Gewerbeausstellung. Sollten wir diesem Gedenken? Was steht für Sie dabei im Vordergrund? „Gedenken“ klingt immer so nach Friedhof. Hier würde ich für ein aktiveres Fortschreiben plädieren. Generell sollten wir Tradition und Zukunft miteinander verbinden. Die Ausstellungen waren ja damals auch ein Ort des öffentlichen Diskurses, beispielsweise über modernes Wohnen, innovatives Bauen, Freizeit oder Hygiene. Heute sollten wir vielleicht Tradition und Zukunft verbinden und uns an den Orten über unser Arbeits- und Freizeitverhalten, den Umgang mit Realität und Virtualität oder ähnlichen Themen auseinandersetzen. Dies konsequent weiterführen. Insofern könnte der heutige Clara-Zetkin-Park, das ehemalige Ausstellungsgelände, einen spannenden Rundgang bergen, der den Bogen vom Gestern zum Morgen schlägt. Welche Chancen sehen Sie für die Kommunikation mit Parkbesuchernm wenn es eine Erinnerungskultur (z.B. ein Parkjubiläum) geben würde? Die immer wieder im Park stattfindenden Feste aber auch das Freizeitverhalten der Leipziger zeigen doch, dass der Park angenommen wird. Die Frage wird sein, wie man die Historie in die Gegenwart einbettet und Schlüsselreize zur Auseinandersetzung schafft. Da gibt es aber viele Möglichkeiten, so kann eine historische Bildprojektion die Gegenwart überlagern. Die sommerlichen Kinovorführungen auf der „Warze“ und die Sommerkonzerte am Musikpavillon knüpfen im Übrigen schon jetzt an das Erbe des Ausstellungstheaters und jene Musikpavillons an, die 1897 aufgebaut wurden. Mehr Informationen können Interessierte in meinem Buch erfahren. Aktuelles: www.stiga-leipzig.de © 2017 is licensed under CC BY-NC-SA 4.0 Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen

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