Gespräch mit Experten – Dr. Enrico Ruge-Hochmuth zur STIGA

Dr. Enrico Ruge-Hochmuth beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit den Themen der Industriekultur und speziell mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Sein Buch gibt erstmals einen Gesamtüberblick über das sächsische Ausstellungswesen bis ins 20. Jahrhundert hinein und ordnet diese in einen regionalen, nationalen und internationalen Kontext ein.

Dr. Enrico Ruge-Hochmuth
Museologe, Kulturwissenschaftler


Als Leitender Kurator des Deutschen Genossenschaftsmuseums in Delitzsch war er verantwortlich für die erste erfolgreiche deutsche UNESCO-Bewerbung 2016 für die Liste des Immateriellen Weltkulturerbes mit der „Idee und Praxis von Genossenschaften“. 2019 ist er Mitautor einer weiteren Publikation „Kooperativ Wirtschaften – Modern Bauen. Die Architektur der Genossenschaften in Sachsen“.
Industrie- und Gewerbeausstellungen in Sachsen 1824–1914

Hochmuth, E./ Sächsisches Wirtschaftsarchiv e.V. (Hg.)

Bestell-Nr: 29-089
ISBN: 978-3-86729-089-0
Auflage: 1. Auflage 2012
Maße: 24 x 17 x 1,5 cm
Umfang: 216 Seiten
Abbildungen: 40 einfarbig
Gewicht: 750 g

Preis: 24,80 €

Herr Ruge-Hochmuth, Sie beschäftigen sich mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Was erzählen Sie Jemandem, der nichts über die Gewerbeausstellungen weiß? Welche Bedeutung würden Sie der STIGA 1897 in Leipzig zusprechen?

Ab dem frühen 19. Jahrhundert gab es Ausstellungen, die zu Volksfesten wurden. Sie verbanden Industrie und Kultur miteinander und prägen unser Konsumverhalten bis heute. Denn dort wurde diskutiert und ausgezeichnet, was „schön“ oder was „funktionell“ ist, die Gesellschaft für den Umgang mit Design sensibilisiert. Auch regionale Produktmarken, wie „Plauener Spitze“, „Bautzner Senf“ oder „Glashütter Uhren“ wurden durch diese Veranstaltungen nachhaltig verfestigt. Aber der Bildungsaspekt spielte auch eine Rolle, um Ängste vor der technisierten Welt abzubauen. Der Industriemensch tickt anders und sollte gut funktionieren. So konnte das Produkt und oft auch dessen Herstellungsweise direkt erfahren und manchmal auch in kulturelle Zusammenhänge eingebettet erlebt werden. Die während der Ausstellung täglich erscheinende Ausstellungszeitung druckte man beispielsweise vor den Augen der Besucher auf einer neuartigen Rotationsdruckmaschine. Heute tanzen Menschen nach dem Sound der Maschinen „Techno“ und betrachten maschinell hergestellte Massenprodukte als Kunstform, die zumeist trivial anmutenden Massenprodukte werden bis heute zum einzigartigen Kulturerlebnis stilisiert.

Warum gab es so viele Preise? So viel Aufwand im Auf- und Abbau für einen Ausstellungszeitraum von sechs Monaten?

Die Aussteller waren zumeist kleine und mittelständische Produzenten und Gewerbetreibende. Sie wollten neue Kunden und Ausstellungsmedaillen gewinnen. In vielen Kategorien wurden solche Preise vor Ort vergeben, um sie anschließend werbewirksam für den Verkauf einzusetzen. Schauen Sie mal auf eine Becks- oder Radeberger-Flasche, da finden Sie die Medaillen noch heute auf dem Etikett. Die Besucher aus dem näheren und weiteren Umland kamen freilich auch, weil ihnen Superlative und außerordentliche Erlebniswelten versprochen worden. So wurde das „Thüringer Dorf“ oder das „Alte Leipzig“ mit allem was so dazu gehört nachgebaut und von kostümierten Schaustellern bevölkert, im Ausstellungsteil „Deutsch-Ostafrika“ wurden sogar – auch damals war das umstritten – „echte Eingeborene“ zur Schau gestellt. Für die Besucher war das Reisen durch inszenierte Welten, die sie in der Realität kaum hätten machen können, ein Highlight.

Gibt es Parallelen zum heutigen Streben nach überregionalem Prestige?

Der urbane Wettstreit hat in den letzten einhundert Jahren nicht abgenommen. Leipzig will sich nach wie vor als Handels- und Kongressmetropole überregional vermarkten, sucht Wege und Möglichkeiten sich international zu profilieren. Trotz aller Virtualität existieren noch immer kleinere, thematisch sehr fokussierte Formate, die genauso direkt auf das Konsumverhalten abzielen. Die „Eventisierung“ spielt dabei nach wie vor eine große Rolle. Die Veranstaltungsgäste, da hat sich bis heute nichts geändert, wollen gut unterhalten werden.

2022 begeht Leipzig das 125-jährige Jubiläum der Gewerbeausstellung. Was steht für Sie hierbei im Vordergrund?

Generell sollten wir Tradition und Zukunft miteinander verbinden, an etwas „Gedenken“ klingt immer so nach Friedhof. In der Auseinandersetzung mit dem Thema würde ich für ein aktiveres Fortschreiben plädieren. Die Ausstellungen waren damals ein Ort des öffentlichen Diskurses, beispielsweise über modernes Wohnen, innovatives Bauen, Freizeitgestaltung oder Hygiene. Wir sollten dies konsequent weiterführen und uns auch an den historischen Orten über unser Arbeits- und Freizeitverhalten, den Umgang mit Realität und Virtualität oder ähnlichen Themen auseinandersetzen. Insofern könnte die Entdeckung der heutigen Parkanlage, das ehemalige Ausstellungsgelände, einen spannenden Rundgang bergen, der den Bogen vom Gestern zum Morgen spannt.

Mehr Informationen erfahren Sie in meinem Buch.

Aktuelles: www.stiga-leipzig.de


Autor/in

  • Mike Demmig

    studierte Verlagswirtschaft, Hobbyhistoriker und Veranstalter in Leipzig. Über ein Jahrzehnt ist er mitentscheidend beim Wiederaufbau des Leipziger Musikpavillons zu einem generationsübergreifenden Treffpunkt. In verschiedenen Engagements setzt er sich für Projekte ein, die einen lokalhistorischen Bezug haben. Ehrenamtliches Mitglied im Stadtbezirksbeirat Leipzig-Mitte, Förderer und Jury-Mitglied beim Gert-Triller-Preis für Musikkultur der Leipziger Notenspur e.V.

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