Aus der Presse – Letzte Worte zum Abschied der STIGA

„Auch das stolzeste Werk, ins Leben gestellt, ist vergänglich.“ (Th. Körner.)

Sechs Monate lang hat der braune Jüngling im grünen Grunde mit der Rechten den Lorbeer emporgehoben, und mit diesem Attribut stolzer Ehrung auf die goldenen Früchte gedeutet, die im Wipfel des Baumes schimmerten. Während die Einen diesen reichen Obstsegen des Placates als den Erfolg ehrlichen, rühmlichen Strebens aus allen auf der Ausstellung vertretenen Gebieten der Industrie und des Gewerbes nunmehr gedeutet wissen wollen, weisen tiefsinnigere Naturen damit den über alles Erwarten reich ausgefallenen Besuch nach, bei dem in der That „kein Apfel zur Erde konnte“. Dir Symboliker beider Anschauungen dürfen und müssen Recht behalten: Ehre und Ruhm wurde allen Betheiligten an dem glanzvollen Werke zu Theil, reger Zufluß von Besuchern aus allen deutschen Gauen und vom Auslande her ließ die Wallfahrt an manchen Tagen zu einem riesigen Umfang anwachsen.

Jetzt, wo es an‘s Scheiden geht, überkommt Manchem eine gewisse Wehmuth über das Zerstören, Auflösen, Vergehen eines glänzenden Werkes, welches, das darf man bedingungslos aussprechen, unserer Leipziger Bewohnerschaft so ganz ans Herz gewachsen war und der letzteren ein Semester lang immer den willkommensten und freudigsten Anlaß gegeben hatte, weitesten Kreisen außerhalb der freundlichen Lindenstadt die Schönheit und Gediegenheit ihrer in jeder Beziehung wohlgelungenen Ausstellung bewußt werden zu lassen. Je nach der individuellen Geschmacksrichtung fand zudem dort Jeder seine Rechnung, der eine im ästhetischen Genuß ausgiebige Anschauung Dessen, was Natur, Kunst, Gewerbe und Industrie geschaffen, der andere in der Huldigung des Gedankens, daß neben der Betrachtung, sollte sie eindrucksvoll bleiben, auch der materiellen Stärkung zu ihrem Jahrtausende alten Recht verholfen werde. An Mitteln zur Ausführung dieser Idee hat es wahrlich nicht gefehlt.

Beleuchtung am Teich, vom Restaurant Zum Dürkheimer aus gesehen. Zeichnung von E. Cimmer 1897, koloriert 2023.

Am südöstlichen Uferrand des großen Sees von der Stelle an, wo der „Dürkheimer“ den Weg wie ein Raubritter verlegte, um frohe Bacchusjünger zu fangen, bis hin zum „Bratwurst-Glöckli“, dessen letzte Stunde jüngst schon geschlagen, legte sich bogenförmig das Kneipenviertel, der beliebte Treffpunct aller durstigen Seelen. Es war die Mausefalle für Hunderttausende. Wer einmal drin saß, kam nicht wieder heraus.

Nun sind auch die Herrlichkeiten aller dieser Stätten im Schwinden. Es wird die Facade des freundlichen „Tucherbräu“ mit der gemalten Mohrenkopfmarke in Trümmer sinken, es wird der von der Leipziger Damenwelt in täglichem Ansturm seiner Küchenbuffets genommene „Rothenburger Erker“, den Stunde für Stunde schrille Zigeunermusik „umsäuselte“, den Weg alles Gipses wandeln, und die grellweiß getünchte Osteria am Teichgestade vergehen, dort, wo das weithinleuchtende Wort Aqua sola den Unkundigen zu der Meinung führte, daß der gewässerte Titel gleichwerthig mit Aqua soda, Sodawasser, sei.

Wo einst das „Willkommen“ zum Eintritt und zum Beschauen winkte, macht sich seit Kurzem das häßliche „Verkäuflich“ breit. Allerorten wird ausverkauft. Die Fischkosthalle sucht für ihre 15 000 Biermarken Abnehmer; alles kommt zum Angebot: Pavillons, Schränke, Tische, Stühle, Palmen, Büsten, Villen, Bänke, Gläser und Flaschen, denn die Uhr ist abgelaufen und die Logis sind gekündigt. Ungern trennt man sich von dem köstlichen architektonischen Bilde auf waldumzogenem Plan.

Wie oft hat der alte, von flatternden Wimpeln gekrönte Wartburgthurm freudig auslugende Bewunderer auf seinen Zinnen gesehen, Hunderte von idealen „Strebern“, die im Innern des viereckigen Kolosses langsam zur ersehnten Höhe emporgewunden wurden. Was sie sahen, das war bezaubernd. Vor sich Wasser und Wald, dazwischen farbig aufleuchtende Bauten mit Kuppeln, Thürmen und Thürmchen, Kiosken und Tempeln, Brücken und Terrassen, mit einem Wort eine herrliche Welt, in der nur Freude und Vergnügen zu Worte kamen, hinter sich aber bis zur Grenze des idyllischen Blockhauses das Thüringer Dörfchen in der ganzen Ursprünglichkeit von Raum und Form. Jetzt steht das Mühlrad still; der Esel, diese reizende Staffage der Lindenmühle, hat seine Schuldigkeit gethan und geht, auch ist das Schicksal der wohlgemästeten Gänsecolonie im Dorfteich, dem heiligen Martinus zu Ehren geopfert zu werden, nunmehr unwiderruflich besiegelt, der Dorfteich selbst dem Austrocknen verfallen. Bei den letzten Gemeinderaths-Sitzungen im Gemeindehause tauchte bei feurigem Most der Wunsch auf, Manches erhalten zu sehen, was für die Nachwelt als Relicten-Architektur von Werth sein könne, doch resignirt blieb Alles bei Wunsch und Most.

„Menschen, Menschen sein mer Alle, Fehler hat a Jeder gnua, Alle können doch nicht gleich sein, das liegt schon in der Natur“ sang noch einmal die lustige Capelle, dann schloß auch diese denkwürdige Sitzung. Noch einige Male wird der Tanzboden in der „Tanne“ schwanken, werden die Musikanten im Felsgewölbe der Wernesgrüner Schänke fiedeln, dann ist es aus. Was war das für ein Leben in diesem Sommer dort oben auf der Terrasse der Wernesgrüner Schänke, wie schäumte und perlte dort die Wernesgrüner Weiße!

Herrliche Tage verleibt der Himmel auch jetzt noch in seiner Gunst dem Werke, Tage voll Sonnenscheins und wahrer Frühlingsstimmung, gleichsam als wollte er Das, was er in den letzten Wochen versagt, nun am Schlusse wieder in vollstem Maße gut machen und ein glänzendes sonniges „Finis coronat opus“ aufleuchten lassen. Und dankbar genießt unser Publicum diese Himmelsgunst und strömt in vollen Schaaren hinaus auf den Ausstellungsplatz, um den letzten wehmüthigen Abschied von den Herrlichkeiten zu nehmen, die unser Leipzig für ein halbes Jahr mit einem Leben erfüllt hatten, das uns sonst nur die Messen zu bringen pflegten.

Vor einigen Tagen allerdings fröstelte es stark in der Natur. Es war Herbststimmung, es war ein anderes Bild. … Der Wind trug fahle Blätter aus dem „Scheibenholz“ herüber und streute sie auf Bank und Weg. Fast passagierlos polterte der Train der elektrischen Rundbahn durchs Gehölz, über die Fluthcanalbrücken, an der Boma der Schwarzen vorbei, am Alten Meßviertel vorüber, dann huschte sie hinter den Nietzschmann‘schen Wursttempel, hinter das Panorama und den anderen Kolossalbauten dieser Schaustellungslinie, um später am Eismeerpanorama wieder zum Vorschein zu kommen.

Nun ist der Moment, an dem die imitirten Eisschollen zu Feuerholz zerhackt, die Eisbären und Seelöwen verpackt und die nimmersatten Möven und Taucher anderwärts einquartiert werden sollen, unwiderruflich gekommen. Welcher Ohrenschmaus bisher, als die Seelöwen in klagendem, abgehacktem Bellen theils Hunger, theils Wohlbefinden verriethen, als die Capelle der ihre Insassen quirlartig drehenden elektrischen Stufenbahn mit der zwingenden Gewalt des Bleches das Surren und Rasseln der mächtigen, mit Glühlampen überreich decorirten Drehscheibe übertönte, als das Schmettern der Trompeten das Einreiten sportkundiger Jünglinge und verwegener Amazonen in die Arena des Hippodroms verkündete.

Jetzt wird an allen Ecken und Enden des Ausstellungsplans nur Retraite geblasen. Flüchtig durchwandern wir zum Abschied noch einmal den Industriepalast mit allen Einzelheiten und Schönheiten. Soll dies Alles schwinden? Unerbittlich geben die Hallen das Ja zurück. So muß sich denn bald das Dröhnen der Hämmer, das Klirren der Eisen und das Knacken des Holzwerkes wiederholen, wie es zu Beginn der Ausstellung zu vernehmen gewesen. Industrie und Gewerbe räumen ihr Heim.

Doch was ist das, da kommt auf einmal eine ganz unbekannte Ausstellungsecke zum Vorschein. Hier steht „die lange Bank“, auf welche man die Verloosung geschoben hat, dort „das Licht“, welches den Berlinern ob unseres reizenden, großartigen Unternehmens aufgegangen, hier tritt „die hohe Kante“ vor, auf welche der Ausstellungsüberschuß gelegt werden soll. Ei, auch „das Fettnäpfchen“ ist da, in das Mancher getreten, und „das Steckenpferd“, das Viele in ergiebigster Ausnutzung ihrer Dauerkarte geritten. Selbstverständlich fehlt auch „der Stiefel“ nicht, den Mancher vertragen, und „der Stein“, welcher dem geschäftsführenden Ausschuß ob des glücklichen Gelingens der Ausstellung vom Herzen gefallen, noch weniger „das Haar“, welches das Preisrichtercollegium in seinem Amte gefunden. Trotz des Stuhlvermiethungsbureaus hat sich mancher, der es Jedem recht machen wollte, zwischen „zwei Stühle“ gesetzt; auch sie gehören hierher und zuletzt noch „das Dach“, auf das man dem und jenem unberechtigter Weise gestiegen.

Das alte, dem Untergang bestimmte Meßviertel, das so viel des Heiteren und Scherzhaften gesehen, wird nun auch seine Thore schließen. Rasch noch einmal die paar Stufen hinab, hinab in den durch Künstler-Ulk geweihten „Auerbach‘s Keller“. „Verlangst du nicht nach einem Besenstiele?“ kichert es aus der Ecke. Es klirren die Römer, gefüllt mit herrlichem Frankenwein, es erklingen lustige Lieder, und erneut kommt die Erinnerung an fröhliche, hier verlebte Stunden herauf, in denen frohe Laune die in jenen Räumen hin- und herwogende Menge beherrschte. Ein halbes Jahr lang saßen Faust und Mephisto fest eingeklemmt im Tonnengewölbe zum Faßritt in die Höhe; nun hat ihr Warten am längsten gedauert. Wenn drüben im Rathhause, das wie so manche Rathhäuser erst durch den „Raths-Keller“ berühmt geworden ist, das letzte Faß verzapft worden, wenn die weißgepuderten Rococo-Sirenen im Kaffeebaum ihre Perrücken bei Seite gelegt und Nickau‘s Gosenbatterien gesunken, dann wird auch der Teufel aus seiner zwangvollen Lage befreit sein.

Der Tag geht zur Rüste. Schon haben die Spreeboote auf dem Weiher ihre Fahrten eingestellt; es schweigt der Donner der Marineschauspiele, nur ab und zu rutscht noch ein Kahn der Wasserbahn in die Fluth, steuert ein einsames Motorboot der Fluthrinne entlang bis zur hölzernen Brücke am Thüringer Dörfchen.

Nun noch einmal rasch empor zum Thurme der Industriehalle, zur Umschau über das Gelände! Ist es doch angenehmer, ein Panorama zu schauen, als es in Buchform zu kaufen! Der Fesselballon, der wie ein gebundener und geschnürter Riese da unten am Boden lagert, ist fast mit den Händen zu greifen, die niedlichen Häuschen im Dörfchen stehen wie zum Spielen da. Schnurgerade läuft die von den Masten der elektrischen Bogenlampen und zierlichen Lindenbäume flankirte König-Albert-Allee bis zu den von gärtnerischen Anlagen umzogenen Bassin, theilt sich dort, um endlich die geschlossene Linie durch das Hauptportal zu nehmen. Stolze Bauten säumen ihre nördliche Seite.

„Verkalkte Poesie“, so könnte man mit Fug und Recht viele der architektonischen Schöpfungen nennen, die nun in Staub und Trümmer gehen, von der Halle der Stadt Leipzig an bis zu Burg Taufers und der Halle für Malerei und Sculptur, mitsammt der Gartenbauhalle und den verstreuten Blumen- und Musiktempeln.

Reizend nimmt sich das Hauptcafé an der Brücke aus und drüben die Hauptgastwirthschaft, in deren mit so kühnem und effektvollem malerischen Schwung decorirten Halle Homer‘s Wort aus der Odyssee seine praktische Auslegung fand: „Und sie erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle.“ Wie angenehm ließ es sich hier weilen, als an lauen Sommerabenden Tausende sich um den großen Teich und um die Musikpavillons an seinen Ufern schaarten, als der bunte Gischt des Leuchtspringbrunnens aus leuchtenden Wogen und mächtigen Wassergarben im Wechsel des Prisma aufspritzte, als die lichtglänzenden Perlen und Puncte der Illuminationslampen im tiefschwarzen Wasser reflectirten und zitternde Lichtstreifen warfen.

Noch einmal erinnern wir uns bei der köstlichen Witterung dieser Tage mit vollem Empfinden der herrlichen Zeit. Uebermorgen aber heißt es: Tempi passati!

Noch erscheint Alles wie festgefügt auf Jahrzehnte hinaus. Bei näherer Betrachtung aber zeigt sich doch ein bedenkliches Moment. Es bröckelt. Wie stolz strebt Burg Taufers zum Himmel hinein, eine trotzige Burg auf starren Felsen; hier und da bekommt aber doch der Felsen ein Loch, das die Illusion raubt, sobald die Drahtmaschen die ganze Cachirung verrathen. Wie hier, so anderweit wird die Herrlichkeit in Trümmer geben. Eins wird sich dagegen auf lange Jahre hinaus rege im Geist und im Gedächtniß unserer Bevölkerung erhalten: die Erinnerung an eine große That ehrlicher, treuer Arbeit der Kunst, der Industrie und des Gewerbes, an ein wohlgelungenes, mit herrlichen Erfolgen kraftvoll durchgeführtes, von der Sympathie aller Kreise und Ländergruppen begleitetes Werk uneigennützigen Bürgersinnes, der zum Stolze, zur Ehre und zum Ruhme Leipzigs bis zur letzten Stunde wackere Vertreter und Kämpen zur Durchführung seiner schwierigen, aber auch dankbaren Aufgabe fand. Dank, innigen Dank dafür!

Verschwinden soll nunmehr das Wunderland, welches deutsche Arbeit durch tausend regsame Hände mit der Kraft von Cyklopen und Titanen und mit dem Fleiße von Bienen und Ameisen aus einem Urland, geleitet von regem Unternehmungsgeist, hat erstehen lassen, vergehen wieder das Ausstellungswerk, das, als eine dankenswerthe Schöpfung von hochcultureller Bedeutung sich darstellend, den in unserem Volke mächtig waltenden Gewerbfleiß als einen gewichtigen Factor aller nationalen Arbeit zur Erscheinung brachte und sich zugleich weiter bedeutsam für die Kennzeichnung der Stadt Leipzig, dieser Metropole für Handel und Verkehr, als erprobte internationale Vermittelungsstelle für deutsche Production und deutsche Arbeit erwies.

Wenn am Dienstag zum letzten Mal gewaltiger Glockenklang als feierlicher Abschiedsgruß über den Plan zieht, wird mit dem Dank für das Geschaffene und Geschaute der Wunsch rege werden, daß dieses Werk weitere reiche wirthschaftliche Früchte für Alle tragen möge, die zu seinem Gelingen alle ihre ideellen und materiellen Mittel eingesetzt und bethätigt haben.

Von V. M.


Ein Wort zum Abschied, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger. Sonntagausgabe vom 17. Oktober 1897, S. 7611.


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