Gespräch mit Experten – Sebastian Ringel zum Wandel der Vorstädte

Sebastian Ringel ist ein erfahrener Stadtführer und Autor. Nachdem er sich bereits den verlorenen Häusern der Leipziger Innenstadt gewidmet hat, richtet er nun den Blick auf ein mehr als zehn Quadratkilometer großes Areal zwischen der Innenstadt und den eingemeindeten Dörfern – das so genannte Alt-Leipzig. In seinem neuesten Buch beschreibt er verlorene und identitätsstiftende Orte der Leipziger Vorstädte, die im Laufe der Zeit verschwanden und schafft damit ein Kompendium der ehemaligen Gartenanlagen, Ausfluglokale und Kulturstätten, aber auch ganzer Landschaften mit Seen und Flussläufen. Herr Ringel, Ihr neues Buch beschäftigt sich mit der Entwicklung der historischen Leipziger Vorstädte und behandelt 300 verlorene Orte. Was hat Sie dazu inspiriert, sich mit diesem speziellen Thema auseinanderzusetzen? Nachdem ich bereits die Innenstadt durchforstet habe, war das nächstliegende Thema, die daran anschließenden Vorstädte. Interessant erschienen mir aber auch die landschaftlichen Veränderungen in diesem zentralen Bereich der Stadt – die Überbauung der Bürgergärten, die Umgestaltung des Binnendeltas und die Urbarmachung der Grünflächen. Die Vorstädte von Leipzig haben im Laufe der Zeit erhebliche Veränderungen durchgemacht. Welche stadtplanerischen Zielsetzungen und Motive des Verschwindens haben Sie während Ihrer Recherchen identifiziert? Bis in die 1830er Jahre hinein war Leipzig eine überaus übersichtliche Kleinstadt, die sich bis dato kaum ausgedehnt hatte. Dies galt allerdings für fast alle heutigen Großstädte in jener Zeit. Erst mit der Abschaffung des Torgroschens und der wenige später erfolgten rechtlichen Gleichstellung der Vorstadtbewohner änderten sich die Verhältnisse und zwar grundlegend. Denn von nun an zog die Einwohner nicht mehr wie in den Jahrhunderten zuvor in die Innenstadt, sondern sie drängten aus dieser heraus, da sie sowohl ihre Schutzfunktion als auch ihre rechtliche Vorrangstellung verloren hatte. Zugleich boten die nun entstehenden neuen Vorstädte jede Menge Raum und damit auch Komfort. Zunächst wurden für deren Anlage die Acker- und Wiesenflächen genutzt. Das Areal der alten Vorstädte geriet jedoch ab den 1860er Jahren zunehmend in den Fokus der Investoren, da diese nun im zentralen Bereich der Stadt lagen. Als besonders lukrativ galten die Grundstücke am Ring, der auf Grund seiner Breite dem Repräsentationsbedürfnis der neu gegründeten Versicherungsgesellschaften, Großbanken oder Luxushotel entsprach. Bereits vor dem Ersten Weltkrieg waren die allermeisten der hier stehenden Altbauten ersetzt worden. Viele der an selber Stelle errichteten Neubauten wurden dann während des Zweiten Weltkriegs zerstört. In Ihrem Buch sprechen Sie von „verlorenen Orten“ in den Leipziger Vorstädten. Könnten Sie einige dieser Orte hervorheben und uns erzählen, welche Bedeutung sie in der Geschichte Leipzigs hatten? Zwar wurden bis ins frühe 19. Jahrhundert oft nur einfache Bauten in den Vorstädten errichtet, nichtsdestotrotz existierten auch in der älteren Geschichte wichtige Gebäude hier. Dazu zählen beispielsweise die Mühlen der Stadt oder die Wasserkunst, die einen wesentlichen Teil der Infrastruktur der Stadt abbildeten. Aber auch die Hospitäler gehören dazu und nicht zuletzt die Johanniskirche, das über lange Zeit einzige Gotteshaus außerhalb der Mauern. Im 19. Jahrhundert entstanden dann aber auch diverse Kulturstätten, wie das Neue Theater, der Krystallpalast oder das Centraltheater viele große öffentliche Bauten, wie die Hauptpost oder das Buchhändlerhaus, die allerdings alle während des Zweiten Weltkriegs zerstört wurden. Das Buch enthält auch umfangreiches Kartenmaterial, um die Entwicklung der Vorstädte zu veranschaulichen. Wie haben Sie diese Karten ausgewählt, und welche Erkenntnisse können Leser aus dieser visuellen Darstellung ziehen? Ausgangspunkt ist das Jahr 1860. Die Karten habe ich extra für dieses Buch angelegt. Sie zeigen die Veränderungen im Stadtbild in sechs verschiedenen Abschnitten auf, so dass ein guter Vergleich zwischen den einzelnen Zeitabschnitten möglich und die Entwicklung der Vorstädte nachvollziehbar ist. Sie halten Vorträge zu diesem Thema. Wie behandeln Sie die Geschichte der Leipziger Vorstädte der letzten 160 Jahre? Welche Schlüsselmomente haben Ihrer Meinung nach die größten Auswirkungen auf die Entwicklung gehabt? Zum einen geht es mir darum nicht mehr vorhandenen Gebäude aus der Leipziger Vergangenheit vorzustellen, ich versuche aber auch die Entwicklung der Stadt, anhand der gewählten Beispiele nachzuzeichnen. Die Sächsische Revolution von 1830/31 ist dabei sicherlich der entscheidendste Wendepunkt in der Stadtgeschichte, wobei das heutige Stadtbild in Folge auch durch andere Ereignisse geprägt wurde, wie den Zweiten Weltkrieg oder die Hinwendung zur sozialistischen Moderne Sie verwenden historische Fotografien und aktuelle Aufnahmen, um die Entwicklung der Vorstädte zu veranschaulichen. Welche besonderen Geschichten oder Ereignisse werden Sie in Ihrem Vortrag hervorheben, um den Zuhörern einen Einblick in die faszinierende Geschichte dieses Gebiets zu bieten? Ich muss zugeben, dass ich recht spontan bin, wenn es um das Erzählen kleinerer Episoden oder Ereignisse geht. Es kommt auch immer darauf an um was für eine Art von Vortrag es sich handelt. Meist versuche ich auf die Bauten oder Ereignisse einzugehen, die in direkter Umgebung zum jeweiligen Veranstaltungsort liegen oder die thematisch passen. Die Umgestaltung der Leipziger Vorstädte hat sowohl Gebäude als auch ganze Landschaften betroffen. Für Sie als Stadtführer und Autor, welche Erkenntnis haben Sie aus Ihrer Arbeit gewinnen können? Besonders bemerkenswert finde ich mit welchem Aufwand das Flusssystem umgestaltet wurde. Ebenso erstaunlich ist, das alle alten Bürgergärten Alt-Leipzigs bereits im frühen 20. Jahrhundert komplett überbaut worden sind. Anderseits ist Leipzig heute eine Stadt in der, insbesondere westlich des Stadtkerns, noch große naturbelassene Räume existieren, also nicht nur Parkanlagen, sondern auch Wald- und Auwaldflächen. Dies allerdings ist nicht zuletzt der Tatsache zu verdanken, dass Leipzig nach 1930 über sieben Jahrzehnte nicht mehr gewachsen ist. Mehr erfahren Sie in meinem Buch, in Vorträgen oder während meinen Stadtführungen. Aktuelles: www.sebastian-ringel.de

Leipzig bekommt eine Krystallpalast-Straße

Auf Vorschlag vom Stadtbezirksbeirat-Mitte wird dem Leipziger Krystallpalast eine Straße gewidmet. Auf dem gleichnamigen Gelände im Zentrum Ost wurde das Ensemble 1943 bei einem schweren Bombenangriff auf Leipzig zerstört. Gemäß den genehmigten Plänen ist kein Gebäude vorgesehen, das an die Kulturgeschichte des Ortes anknüpft. Der neue Eigentümer des Krystallpalast-Areals plant an der Ostseite des Leipziger Hauptbahnhofs zwischen Brandenburger- und Hofmeisterstraße, ein neues Wohnquartier zu errichten. Durch das Wohnquartier führt eine neue nicht adressgebundene Querstraße hindurch, die beide Straßen miteinander verbindet. Von der Stadtverwaltung war vorgesehen, die 70 m lange Straße als eine Verlängerung der Hofmeisterstraße zu begreifen und den gleichen Namen zu geben. Der Stadtbezirksbeirat-Mitte befürwortete 2018 auf einer seiner Sitzungen die Benennung der Straße in „Krystallpalast-Straße“ und begründete diesen Vorschlag mit der Kulturgeschichte des Areals. 1881/82 entstand auf dem ehemaligen Gelände vom Schützenhaus und Trianongarten der Leipziger Krystallpalast nach dem englischen Vorbild des Crystal Palace der Londoner Weltausstellung von 1851. Er entwickelte sich zum größten Vergnügungsensemble seiner Zeit und war weltweit ein touristisches Aushängeschild der Stadt. Selbst nach der Zerstörung des Gebäudes im Zweiten Weltkrieg war dieses Areal für weitere 50 Jahre von der Unterhaltungsindustrie geprägt und als beliebter Kulturstandort überregional bekannt. Mit dem Straßennamen soll an den Krystallpalast, an seine Vorgänger- und Nachbauten erinnert werden, die dort über 100 Jahre das Leipziger Stadtbild kulturell prägten. Nach Auffassung des Beirates nimmt dieser Ort damit im kollektiven Gedächtnis der Stadt einen besonderen Platz ein. Die Benennung der Straße in „Krystallpalast-Straße“ soll die künftigen Bewohner des Wohnquartiers dabei unterstützen, sich mit dem Ort und der Leipziger Stadtgeschichte zu identifizieren. Gleichwohl der Kulturgeschichte an diesem Platz gerecht werden. Es gab keine Gegenstimme. Die Beschlussvorlage wurde neu gefasst und der Stadtrat nahm die Änderungsvorlage am 31. Mai 2018 einstimmig an. Aktuelles www.krystallpalast-areal.de/ Vorlage VI-DS-05361-NF-05

Gespräch mit Experten – Daniela Neumann zum Palmengarten

Daniela Neumann forscht seit 2016 zur Geschichte des Leipziger Palmengartens. In Ihren Rundgängen durch die Parkanlage vermittelt sie die fast vergessene Kulturgeschichte der einst „vornehmsten Erholungsstätte“ in Leipzig. Nicht viele Leipziger kennen die Anfänge und das Ende des Palmengartens. Im Interview zählt sie Gründe auf, warum es lohnenswert ist, die alte Parkanlage bei einem Rundgang neu kennenzulernen. Frau Neumann, Sie beschäftigen sich sehr intensiv und leidenschaftlich mit der Geschichte des Leipziger Palmengartens. Wie kamen Sie dazu? Ich wohne und arbeite in der Nähe der Parkanlage und irgendwann ist mir der Begriff Palmengarten aufgefallen, mit dem ich zunächst überhaupt nichts anfangen konnte. Erst seit 2011 wird ja der Palmengarten auch wieder so genannt, bis dahin war das Palmengartenwehr das einzige, das zumindest vom Namen her noch an die Vorgeschichte der nahe gelegenen Grünanlage erinnerte. 2015 wurden in der Käthe-Kollwitz-Straße die „Villen am Palmengarten“ fertiggestellt, und da habe ich mich dann endgültig gefragt, was es mit dem Palmengarten auf sich hat. Ich begann, im Internet zu recherchieren, landete bei historischen Postkarten und war fasziniert von der prächtigen Geschichte des Palmengartens und gleichzeitig auch überrascht, wie wenig davon doch öffentlich bekannt war. Es macht mir viel Spaß, z.B. auf Postkarten etwas über die frühere Gestaltung des Palmengartens herauszufinden. Inzwischen habe ich schon über 200 verschiedene Ansichtskarten vom Park, aber gewiss gibt es noch viele Dinge, die zu entdecken sind. Mein Interesse am Palmengarten rührt also nicht so konkret vom Palmengarten selbst her, sondern entstand deshalb, weil meine Neugier geweckt war, weil ich mir die Informationen dazu selbst beschaffen musste. Ähnlich geht es mir inzwischen mit dem Clara-Zetkin-Park, der ja aus der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung von 1897 hervorgegangen ist, was heute auch nur wenigen bekannt ist. In dem Sinne gehört meine Leidenschaft eigentlich allen Dingen, die in unserer Stadt geschehen aber zu wenig bekannt sind, und die aus dem Vergessen geholt werden sollten. Sie erwähnten die STIGA 1897, spielte diese bei der Errichtung des Palmengartens eine Rolle? Gibt es noch Relikte aus dieser Zeit im heutigen Palmengarten zu sehen? Konkret zu sehen ist nur noch der eiserne Pavillon auf dem Hügel an dem Teich mit der Fontäne. Ich vermute, dass es sich hierbei um ein Ausstellungsstück handelt, das ursprünglich in einer der Hallen der Gewerbeausstellung gestanden hat, weil ich ihn auf offiziellen Fotos der Außenanlagen nie entdecken konnte. Es gibt aber weitere Zusammenhänge: Die Architekten des Gesellschaftshauses im Palmengarten waren die Leipziger August Hermann Schmidt und Arthur Johlige, die auch für den Entwurf der palastartigen Industrie- und Gewerbehalle, dem Wahrzeichen der Ausstellung von 1897, verantwortlich gewesen waren. Beim Vergleich von Fotos der Bauten lassen sich einige Parallelen erkennen. Durch den Rückbau des Ausstellungsgeländes konnte Baumaterial für das Gesellschafts- und das Palmenhaus wiederverwendet werden. Dem Lindenauer Gärtnermeister Otto Moßdorf, der 1897 an der Gestaltung der Außenanlagen der Gewerbeausstellung beteiligt war, wurde die komplette gärtnerische Gestaltung des Palmengartens übertragen, trotzdem der Sieger der Ausschreibung eigentlich ein Gärtner aus dem Frankfurter Palmengarten war und Moßdorf nur den zweiten Platz belegt hatte. Es ist auffällig, dass bei der Umsetzung diverser „Großprojekte“ damals immer auf die Kompetenz vor Ort zurückgegriffen wurde. Sie sprechen den Frankfurter Palmengarten an. Warum gab es in Leipzig überhaupt den Wunsch, einen Leipziger Palmengarten aufzubauen? Den Palmengarten in Frankfurt gab es seit 1871, und er entstand aus einer privaten Initiative heraus. In Leipzig wurde das Projekt von Bürgermeister Otto Georgi initiiert, der mit einigen Dutzend Mitstreitern eine Aktiengesellschaft zur Errichtung und Betreibung eines Palmengartens gründete. Ich denke, über das Verhältnis der zwei Messestädte Frankfurt und Leipzig muss ich nicht viel sagen. Der Leipziger Oberbürgermeister hatte aber mehr im Blick als nur mit Frankfurt gleichzuziehen, denn die Stadt hatte eine Vervielfachung der Einwohnerzahl zu bewältigen (1871: 107.000, 1899 450.000) und war eine aufsteigende Industriestadt. Der Bedarf an Erholung und Entspannung außerhalb der Fabriken und der engen Stadtmitte, die um die Jahrhundertwende eher einer Großbaustelle glich, war sehr hoch. Das gesellschaftliche Leben der Stadt war sehr vielfältig, es brauchte auch Raum für Veranstaltungen von Vereinen, Unternehmen, Studentenverbindungen, Chören, Logen u.v.a. mehr. Von Vorteil für die Umsetzung der Idee war auch, dass die geplante Fläche durch die Gartenbauausstellung von 1893 bereits größtenteils erschlossen war, und auch die Baumaterialien von der Gewerbeausstellung von 1897 wiederverwendet werden konnten. Man musste sozusagen nicht von Null anfangen. Von Anfang an hat die Stadt Leipzig dem Projekt wesentliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Es ging dem Bürgermeister aber ganz klar auch um die Aufwertung der Stadt als lohnendes Besuchsziel für auswärtige Gäste. Ich habe eine ganze Reihe von Postkarten, auf denen der Palmengarten gemeinsam mit dem Alten Rathaus, der Thomaskirche, dem Mendebrunnen, der Kongresshalle am Zoo und vielen anderen Sehenswürdigkeiten, die wir größtenteils heute noch kennen, abgebildet ist. Der Palmengarten war eine Attraktion nicht nur für die Leipziger. In den 30er Jahren ist z.B. auch der Stummfilmstar Henny Porten im Palmengarten gewesen und hat Autogramme gegeben. Der Park hat aber auch ausländische Besucher angezogen. In meinem Besitz sind Ansichtskarten, die in Englisch, Französisch, Niederländisch und sogar Japanisch geschrieben wurden! Würden Sie sagen, dass die Geschichte des Leipziger Palmengartens vergessen ist? Gibt es Gründe warum wir sie nicht vergessen sollten? Das kommt auf die Perspektive an. Für mich ist sie inzwischen kein Fragezeichen mehr und durch die regelmäßigen Führungen versuche ich meinen Beitrag dafür zu leisten, dass dieses Stück Stadtgeschichte in Erinnerung bleibt. Unbestritten ist das Potential vorhanden, im Park selbst die Vergangenheit ins Heute zu holen. Dabei denke ich nicht zwingend an Informationstafeln, sondern der bisher noch kaum konzeptionell gestaltete Park könnte als Modell für einen ganz modernen Park des 21. Jahrhunderts werden: interaktiv, multimedial. Ich habe zum Beispiel woanders schon Parkbänke gesehen, die auf Knopfdruck Musik spielen oder kleine Räume, in denen man per Augmented Reality in die Kostüme der Zeit schlüpfen kann. Die Aneignung von Geschichte muss nicht langweilig sein. Modernes Ausstellungsdesign kann hier vielfältige Anregungen bieten. Die Stadt Leipzig könnte in die Fußstapfen von Otto Georgi treten und einen Park kreieren, der wieder zum Anziehungspunkt nicht nur für Leipziger sondern auch auswärtige Gäste wird. Das wäre gleichermaßen eine … Weiterlesen

Gespräch mit Experten – Dr. Enrico Ruge-Hochmuth zur STIGA

Dr. Enrico Ruge-Hochmuth beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit den Themen der Industriekultur und speziell mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Sein Buch gibt erstmals einen Gesamtüberblick über das sächsische Ausstellungswesen bis ins 20. Jahrhundert hinein und ordnet diese in einen regionalen, nationalen und internationalen Kontext ein. Herr Ruge-Hochmuth, Sie beschäftigen sich mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Was erzählen Sie Jemandem, der nichts über die Gewerbeausstellungen weiß? Welche Bedeutung würden Sie der STIGA 1897 in Leipzig zusprechen? Ab dem frühen 19. Jahrhundert gab es Ausstellungen, die zu Volksfesten wurden. Sie verbanden Industrie und Kultur miteinander und prägen unser Konsumverhalten bis heute. Denn dort wurde diskutiert und ausgezeichnet, was „schön“ oder was „funktionell“ ist, die Gesellschaft für den Umgang mit Design sensibilisiert. Auch regionale Produktmarken, wie „Plauener Spitze“, „Bautzner Senf“ oder „Glashütter Uhren“ wurden durch diese Veranstaltungen nachhaltig verfestigt. Aber der Bildungsaspekt spielte auch eine Rolle, um Ängste vor der technisierten Welt abzubauen. Der Industriemensch tickt anders und sollte gut funktionieren. So konnte das Produkt und oft auch dessen Herstellungsweise direkt erfahren und manchmal auch in kulturelle Zusammenhänge eingebettet erlebt werden. Die während der Ausstellung täglich erscheinende Ausstellungszeitung druckte man beispielsweise vor den Augen der Besucher auf einer neuartigen Rotationsdruckmaschine. Heute tanzen Menschen nach dem Sound der Maschinen „Techno“ und betrachten maschinell hergestellte Massenprodukte als Kunstform, die zumeist trivial anmutenden Massenprodukte werden bis heute zum einzigartigen Kulturerlebnis stilisiert. Warum gab es so viele Preise? So viel Aufwand im Auf- und Abbau für einen Ausstellungszeitraum von sechs Monaten? Die Aussteller waren zumeist kleine und mittelständische Produzenten und Gewerbetreibende. Sie wollten neue Kunden und Ausstellungsmedaillen gewinnen. In vielen Kategorien wurden solche Preise vor Ort vergeben, um sie anschließend werbewirksam für den Verkauf einzusetzen. Schauen Sie mal auf eine Becks- oder Radeberger-Flasche, da finden Sie die Medaillen noch heute auf dem Etikett. Die Besucher aus dem näheren und weiteren Umland kamen freilich auch, weil ihnen Superlative und außerordentliche Erlebniswelten versprochen worden. So wurde das „Thüringer Dorf“ oder das „Alte Leipzig“ mit allem was so dazu gehört nachgebaut und von kostümierten Schaustellern bevölkert, im Ausstellungsteil „Deutsch-Ostafrika“ wurden sogar – auch damals war das umstritten – „echte Eingeborene“ zur Schau gestellt. Für die Besucher war das Reisen durch inszenierte Welten, die sie in der Realität kaum hätten machen können, ein Highlight. Gibt es Parallelen zum heutigen Streben nach überregionalem Prestige? Der urbane Wettstreit hat in den letzten einhundert Jahren nicht abgenommen. Leipzig will sich nach wie vor als Handels- und Kongressmetropole überregional vermarkten, sucht Wege und Möglichkeiten sich international zu profilieren. Trotz aller Virtualität existieren noch immer kleinere, thematisch sehr fokussierte Formate, die genauso direkt auf das Konsumverhalten abzielen. Die „Eventisierung“ spielt dabei nach wie vor eine große Rolle. Die Veranstaltungsgäste, da hat sich bis heute nichts geändert, wollen gut unterhalten werden. 2022 begeht Leipzig das 125-jährige Jubiläum der Gewerbeausstellung. Was steht für Sie hierbei im Vordergrund? Generell sollten wir Tradition und Zukunft miteinander verbinden, an etwas „Gedenken“ klingt immer so nach Friedhof. In der Auseinandersetzung mit dem Thema würde ich für ein aktiveres Fortschreiben plädieren. Die Ausstellungen waren damals ein Ort des öffentlichen Diskurses, beispielsweise über modernes Wohnen, innovatives Bauen, Freizeitgestaltung oder Hygiene. Wir sollten dies konsequent weiterführen und uns auch an den historischen Orten über unser Arbeits- und Freizeitverhalten, den Umgang mit Realität und Virtualität oder ähnlichen Themen auseinandersetzen. Insofern könnte die Entdeckung der heutigen Parkanlage, das ehemalige Ausstellungsgelände, einen spannenden Rundgang bergen, der den Bogen vom Gestern zum Morgen spannt. Mehr Informationen erfahren Sie in meinem Buch. Aktuelles: www.stiga-leipzig.de

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