Gespräch mit Experten – Michael Liebmann zum Brandvorwerk

Michael Liebmann hat mit seinen Recherchen über das Leipziger Brandvorwerk die Geschichte eines nahezu vergessenen Ortes wieder zum Leben erweckt und ein gut lesbares Buch geschrieben, das auf Grundlage akribischer Archivrecherche qualitative Maßstäbe zur Erforschung der Stadtgeschichte setzt. Dabei stellte er unter anderem heraus, wie die Besitzer des Vorwerks über die Jahrhunderte hinweg mit den Rechten und Privilegien jonglierten, wie der Ort mit der Siedlungsgeschichte und den Calvinistensturm in Leipzig verknüpft ist. Er verdeutlicht anschaulich, welchen Anteil das Brandvorwerk für die Entwicklung der heutigen Südvorstadt hatte. Empfehlenswert nicht nur für Geschichtsinteressierte, sondern für alle, die die Vergangenheit anhand historischer Quellen aus einer anderen Perspektive entdecken wollen. Herr Liebmann, Sie haben sich mit der Geschichte des Brandvorwerks in Leipzig beschäftigt und ein Buch geschrieben. Wie kamen Sie dazu, was hat Sie dazu bewogen, zur Lokalgeschichte zu forschen? Von Hause aus bin ich Gymnasiallehrer für Geschichte, Politik und Deutsch, arbeite aber seit nunmehr 15 Jahren als freier Autor, schreibe Fachartikel und Sachbücher und arbeite aktiv im Bürgerverein Pro Leipzig e.V. mit. In meinen Texten geht es meist um die Vorgeschichte nach Leipzig eingemeindeter Orte. Meiner Meinung nach lag das Hauptaugenmerk der Geschichtswissenschaft früher etwas zu sehr auf Alt-Leipzig. Dies ist natürlich nachvollziehbar und generiert auch eine größere Leserschaft. Aber die Historie der im 19. und 20. Jahrhundert angeschlossenen Gemeinden kam mir da zu kurz, steht erst seit den Forschungen zur vierbändigen Stadtgeschichte um 2015 mehr im Fokus. Das begrüße ich sehr, denn was gibt es Spannenderes, als den Kontrast von Stadt und Dorf zu beschreiben und die komplexen Stadt-Vorort-Beziehungen zu erforschen? Jemand, der in Böhlitz-Ehrenberg wohnt, hat doch ein ganz anderes Leipzig-Bild als ein Innenstädter. Die Leipziger Identität ist doch die Summe der Erfahrungen aller Bürgerinnen und Bürger – ob sie im Zentrum wohnen oder in der Peripherie. Das ist es, was mich interessiert. Der Marktplatz dagegen ist schon tausendmal beschrieben und bebildert. Ihr Buch widmet sich dem Brandvorwerk und den Anfängen der Leipziger Südvorstadt. Könnten Sie uns einen Einblick in die Entstehungsgeschichte geben und erklären, was Sie dazu inspiriert hat? Als ich 2008 nach vier Jahrzehnten Abwesenheit in meine Geburtsstadt Leipzig zurückzog, verschlug es mich in die Südvorstadt. Und weil ich den inneren Drang habe, von jedem Ort, an dem ich mich länger als eine Stunde aufhalte, auch die Historie zu erkunden, war es natürlich ganz selbstverständlich, mich auch mit meinem direkten Wohnumfeld zu beschäftigen. Da kam ich dann auch an einem Schild mit dem Namen „Brandvorwerkstraße“ nicht vorbei. Eine Straße, die nach einem Vorwerk benannt ist? Das klang interessant. Darüber wollte ich mehr erfahren. Aber die Suche nach Informationen in der einschlägigen Literatur enttäuschte: Das Brandvorwerk kam nirgends vor oder wurde nur in knappen Fußnoten abgetan. Ich habe mich damals dort sogar einen Samstag-Nachmittag an eine Straßenecke gestellt und über 60 Passanten gefragt, was es mit diesem Vorwerk auf sich hat. Nur einer konnte mir grob eine Antwort geben. Da dachte ich: Okay, muss ich das eben selber machen. Das Brandvorwerk ist vielen Menschen heute weniger bekannt. Könnten Sie uns kurz erläutern, warum der Ort in der Geschichte Leipzigs eine bedeutende Rolle spielte? Gab es mehrere dieser Orte? Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nannte man einen landwirtschaftlichen Gutshof, der sich außerhalb einer Burg oder Befestigungsanlage befand, ein Vorwerk. Und weil das Wort Bürger von Burg kommt, bezeichneten die Leipziger die ihnen gehörigen Gutshöfe vor den Toren der Stadt ebenfalls als Vorwerke. Davon gab es allerdings mehrere, diesbezüglich war das Brandvorwerk nichts Besonderes. Außergewöhnlich – und heute fast vergessen – ist allerdings der Fakt, dass dieser Gutshof den Großteil der Flur eines wüst gefallenen Dorfes besetzte. Dieses einst von den Slawen gegründete und wohl Ende des 14. Jahrhunderts verlassene Lusitz ist heute noch weniger Leuten bekannt als das Brandvorwerk – an diesen Leipziger Vorort erinnert nicht einmal ein Straßenname. Und doch handelt es sich dabei um die historische Wurzel der heutigen Südvorstadt. Die umfasst heute ein Gebiet von etwa 2,5 km2, aber im Hochmittelalter war die Lusitzer Gemarkung sogar 3,2 km2 groß. Das bedeutet, dass sich Leipzig und Connewitz Teile davon einverleibt haben müssen, nachdem die letzten Lusitzer Bauern ihr Dorf verlassen hatten. Land und Leute gehörten übrigens seit Mitte des 13. Jahrhunderts dem Leipziger Nonnenkloster St. Georg. Dazu zählte auch eine Wassermühle, die in etwa dort stand, wo sich heute der kleine Dürrplatz befindet: westlich der Kreuzung Wundt- und Kurt-Eisner-Straße. Das Kloster seinerseits stand im Schatten der Pleißenburg und also fast zwei Kilometer nördlich der Mühle. Deshalb baten die Nonnen den Landesherrn und die Stadt im Jahr 1287, den Pleißemühlgraben bis nach Lusitz zu verlängern und die Mühle direkt ans Kloster versetzen zu dürfen. Die Nonnenmühle existierte dann dort, vis a vis der Pleißenburg, noch bis 1890. Den Pleißemühlgraben gibt es, teils verrohrt, teils wieder geöffnet, noch heute. Von seiner Verbindung mit Lusitz wissen nur wenige. Im Übrigen haben die Georgennonnen dann im 15. Jahrhundert auf der verlassenen Lusitzer Flur eine Schäferei eingerichtet. Seitdem besetzte also ein Vorwerk eine Dorfgemarkung. Ein solches Rechtskonstrukt gab es auch im wüst gefallenen Pfaffendorf, auf dessen Flur sich heute der Leipziger Zoo ausbreitet. Ihre Forschung basiert auf umfangreichen Archivrecherchen. Könnten Sie uns etwas über die Quellen und Materialien erzählen, auf die Sie während Ihrer Arbeit gestoßen sind und wie Sie diese genutzt haben? Als ich wegen des Buches den Sommer 2011 im Stadtarchiv und Staatsarchiv verbrachte, war die Quellensuche noch viel beschwerlicher als heute. Die Aktentitel waren noch nicht digital eingepflegt. Man konnte nicht einfach „Brandvorwerk“ in eine Suchmaschine eingeben und die vorhandenen Titel einsehen. Stattdessen galt es, dutzende handgeschriebene Katalogbücher auf Hinweise zu durchforsten. Das gestaltete sich schwierig, weil die Findmittel im Stadtarchiv und im Stadtgeschichtlichen Museum nach Stadtteilen geordnet waren – und da kam „Brandvorwerk“ gar nicht vor. Der Ort war derart in Vergessenheit geraten, dass ihn nicht einmal die Archivare auf dem Zettel hatten. Ich musste also mühselig sämtliche Akten auf Verdacht anfordern und durchsehen, die irgendwie das Wort Vorwerk beinhalteten. Eine Sisyphusarbeit. Heutzutage sind die Archive viel benutzerfreundlicher. Da braucht man nur noch das Schlagwort Brandvorwerk eingeben … Weiterlesen

Gespräch mit Experten – Joana Brauhardt zur Insel Buen Retiro

Joana Brauhardt ist eine passionierte Kunsthistorikerin, deren akademischer Werdegang sich an der Schnittstelle von Kunst- und Gartengeschichte sowie der Museumsarbeit bewegt. Im Rahmen eines Forschungsprojekts ihrer Hochschule beschäftigte sie sich intensiv mit der Geschichte einer Leipziger Insel im 19. Jahrhundert, die unter dem Namen Buen Retiro bzw. Schimmels Gut bestens bekannt war. In ihrem Fachbeitrag beleuchtet sie die Ursprünge und die stadtgeschichtliche Relevanz dieses Ortes, seiner Beschaffenheit und Eigentümer sowie die Freizeitaktivitäten und zeigt auf, wie die urbane Entwicklung der Stadt zur Aufgabe dieses beliebten Areals beigetragen hat. Frau Brauhardt, Sie haben sich mit einem besonderen Thema beschäftigt. Die Leipziger Gartenkultur bietet eine Menge spannender Geschichten und Entdeckungen. Was hat Sie motiviert, gerade dieses Thema auszuwählen? Mit den Leipziger Gärten und der Insel Buen Retiro habe ich mich während meines Kunstgeschichtsstudiums beschäftigt. Anlass war ein Projektmodul, in dem wir über die verschiedenen Leipziger Gärten und Ausflugsziele zu jener Zeit forschten. Die spannenden Ergebnisse, die wir dabei entdeckten, wurden erfreulicherweise in einem schönen bebilderten Buch mit hoher Druckqualität 2019 veröffentlicht. Als Kind wollte ich schon immer Detektivin werden, nun bin ich leidenschaftliche Kunsthistorikerin, was diesem Wunsch sehr nahekommt. Könnten Sie uns zunächst erklären, was der Buen Retiro war und welche Bedeutung dieser Ort im 19. Jahrhundert für die Bewohner von Leipzig hatte? Der Buen Retiro befand sich inmitten des Schimmelschen Guts und war im 19. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugsziel. Das riesige Areal zog sich zwischen der heutigen Beethoven- bis zur Paul-Gruner Straße und war bis zu 100 Acker groß. Es war eine Insel, die in eine Gartenanlage mit mehreren Teichen integriert war, auf denen man beispielsweise Boot fahren konnte. Sie war entweder mit einem Kahn oder über eine Brücke erreichbar. Auf ihr gab es Gastwirtschaften wie ein Fischrestaurant und später eine Kegelbahn. Es wurden Veranstaltungen, etwa Konzerte, angeboten und im Winter war Schlittschuhlaufen der letzte Schrei. Die später bewusst verwilderte Anlage war außerdem ein Geheimtipp für Frischverliebte gewesen. Die Bezeichnung Buen Retiro hat einen spanischen Ursprung und bedeutet „Guter Rückzugsort“. Warum wurde dieser Name für die Insel in Leipzig gewählt und wie können wir uns diese vorstellen? Es ist in der Tat überraschend, dass sich ein solcher Ort in Leipzig finden lässt. Der Buen Retiro war ursprünglich ein Park in Madrid, der sich im Laufe der Zeit als beliebter Volkspark für alle sozialen Schichten entwickelte. Dort gab es ebenso Gastwirtschaften, Kunstausstellungen, Teiche zum Bootfahren und ein Tanzlokal. Es gibt allerdings keine nachweisbaren Bezüge zwischen ihm und Leipzig, sodass man davon ausgehen sollte, dass der spanische Name eher eine geschickte Marketing Strategie gewesen sein könnte. Die Geschichte des Ortes ist eng mit den verschiedenen Eigentümern verbunden. Könnten Sie uns mehr über die Entwicklung des Ortes berichten? Das Areal war im Besitz von unterschiedlichen Familien und läuft daher unter mindestens vier verschiedenen Namen. Seit dem 16. Jahrhundert betrieben dort geschäftige Nonnen einige Fischteiche, eine Mühle und ein Vorwerk. Im 18. Jahrhundert befand es sich im Besitz der Kaufmannsfamilie Frege (deren Nachfolger der Sänger Campino ist), die es von dem Universitätsrektor Johann Christian Schamberg erwarben. Christian Gottlob Frege vererbte das Grundstück interessanterweise nicht an den ältesten Sohn, sondern an seine Tochter Christiane Eleonore, verheiratete Krumbhaar. Das war zu dieser Zeit mehr als unüblich, doch bei den Freges gängig. 1788 verkaufte sie bzw. ihr Ehemann das Grundstück. Es wechselte in der Folgezeit mehrmals den Besitzer, 1823 ging es an Friedrich Wilhelm Schimmel über, 1857 an Friedrich August Voigt, einem Konkurrenten Karl Heines, bevor es in den 1880er Jahren endgültig überbaut wurde. Das Gut musste schlussendlich dem Druck der wachsenden Stadt und dem steigenden Bedarf an Wohnraum weichen. Übrigens, während der Völkerschlacht war dort ein französisches Lazarett stationiert. Das Gut ist folglich eng mit der Stadtgeschichte verwoben. Es war ein großes Gebiet, das durch den Pleißemühlgraben in zwei Bereiche unterteilt und nur über drei Brücken zugänglich war. Im Oberen befand sich ein Lust- und Kuchengarten, der im französischen Stil angelegt war, im unteren Teil gab es vier Fischteiche. Später wurden zwei von ihnen zusammengelegt und eine Insel aufgeschüttet. So entwickelte sich der Ort im Laufe der Zeit zu einem der beliebtesten Ausflugsziele Leipzigs. Obwohl es ein wichtiger Ort für die lokale Geschichte ist, finden sich heute keinerlei Spuren mehr davon im Stadtraum. Eigentlich schade. Ein Unglücksfall im Jahr 1842, bei dem der Holzsteg zusammenbrach, hatte für Aufsehen gesorgt. Haben Sie über dieses Ereignis etwas herausfinden können? Der Unfall ereignete sich nach einem Konzert. Die Gäste drängelten sich auf dem Steg, um das anschließende Feuerwerk anzuschauen. Die Konstruktion hielt das Gewicht der Massen leider nicht mehr aus und brach ein. Zum Glück gab es keine schwerwiegenden Verletzungen, jedenfalls habe ich keine Berichte dazu gefunden. Zum Abschluss gestatten Sie die Frage, inwieweit hat diese Arbeit Ihre Sicht auf die Gartenkultur und die historische Entwicklung Leipzigs beeinflusst? Für mich war die Recherche zum Schimmelschen Gut eine spannende Auseinandersetzung mit der Leipziger Stadtgeschichte und der urbanen Entwicklung der Stadt in der ich lebe. Die Erforschung des Themas war ein spannendes Projekt, in dem ich tief in die Archive und zeitgenössische Berichte eintauchen musste. Auch fachlich hat es mich weitergebracht. Erstmals konnte ich alle Fertigkeiten, die das Studium im Institut für Kunstgeschichte an der Universität in Leipzig mir vermittelt hatte, anwenden. Mehr erfahren Sie in dem schönen Buch, das auch in der Bibliothek zu finden ist.

Gespräch mit Experten – Daniela Neumann zum Palmengarten

Daniela Neumann forscht seit 2016 zur Geschichte des Leipziger Palmengartens. In Ihren Rundgängen durch die Parkanlage vermittelt sie die fast vergessene Kulturgeschichte der einst „vornehmsten Erholungsstätte“ in Leipzig. Nicht viele Leipziger kennen die Anfänge und das Ende des Palmengartens. Im Interview zählt sie Gründe auf, warum es lohnenswert ist, die alte Parkanlage bei einem Rundgang neu kennenzulernen. Frau Neumann, Sie beschäftigen sich sehr intensiv und leidenschaftlich mit der Geschichte des Leipziger Palmengartens. Wie kamen Sie dazu? Ich wohne und arbeite in der Nähe der Parkanlage und irgendwann ist mir der Begriff Palmengarten aufgefallen, mit dem ich zunächst überhaupt nichts anfangen konnte. Erst seit 2011 wird ja der Palmengarten auch wieder so genannt, bis dahin war das Palmengartenwehr das einzige, das zumindest vom Namen her noch an die Vorgeschichte der nahe gelegenen Grünanlage erinnerte. 2015 wurden in der Käthe-Kollwitz-Straße die „Villen am Palmengarten“ fertiggestellt, und da habe ich mich dann endgültig gefragt, was es mit dem Palmengarten auf sich hat. Ich begann, im Internet zu recherchieren, landete bei historischen Postkarten und war fasziniert von der prächtigen Geschichte des Palmengartens und gleichzeitig auch überrascht, wie wenig davon doch öffentlich bekannt war. Es macht mir viel Spaß, z.B. auf Postkarten etwas über die frühere Gestaltung des Palmengartens herauszufinden. Inzwischen habe ich schon über 200 verschiedene Ansichtskarten vom Park, aber gewiss gibt es noch viele Dinge, die zu entdecken sind. Mein Interesse am Palmengarten rührt also nicht so konkret vom Palmengarten selbst her, sondern entstand deshalb, weil meine Neugier geweckt war, weil ich mir die Informationen dazu selbst beschaffen musste. Ähnlich geht es mir inzwischen mit dem Clara-Zetkin-Park, der ja aus der Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbeausstellung von 1897 hervorgegangen ist, was heute auch nur wenigen bekannt ist. In dem Sinne gehört meine Leidenschaft eigentlich allen Dingen, die in unserer Stadt geschehen aber zu wenig bekannt sind, und die aus dem Vergessen geholt werden sollten. Sie erwähnten die STIGA 1897, spielte diese bei der Errichtung des Palmengartens eine Rolle? Gibt es noch Relikte aus dieser Zeit im heutigen Palmengarten zu sehen? Konkret zu sehen ist nur noch der eiserne Pavillon auf dem Hügel an dem Teich mit der Fontäne. Ich vermute, dass es sich hierbei um ein Ausstellungsstück handelt, das ursprünglich in einer der Hallen der Gewerbeausstellung gestanden hat, weil ich ihn auf offiziellen Fotos der Außenanlagen nie entdecken konnte. Es gibt aber weitere Zusammenhänge: Die Architekten des Gesellschaftshauses im Palmengarten waren die Leipziger August Hermann Schmidt und Arthur Johlige, die auch für den Entwurf der palastartigen Industrie- und Gewerbehalle, dem Wahrzeichen der Ausstellung von 1897, verantwortlich gewesen waren. Beim Vergleich von Fotos der Bauten lassen sich einige Parallelen erkennen. Durch den Rückbau des Ausstellungsgeländes konnte Baumaterial für das Gesellschafts- und das Palmenhaus wiederverwendet werden. Dem Lindenauer Gärtnermeister Otto Moßdorf, der 1897 an der Gestaltung der Außenanlagen der Gewerbeausstellung beteiligt war, wurde die komplette gärtnerische Gestaltung des Palmengartens übertragen, trotzdem der Sieger der Ausschreibung eigentlich ein Gärtner aus dem Frankfurter Palmengarten war und Moßdorf nur den zweiten Platz belegt hatte. Es ist auffällig, dass bei der Umsetzung diverser „Großprojekte“ damals immer auf die Kompetenz vor Ort zurückgegriffen wurde. Sie sprechen den Frankfurter Palmengarten an. Warum gab es in Leipzig überhaupt den Wunsch, einen Leipziger Palmengarten aufzubauen? Den Palmengarten in Frankfurt gab es seit 1871, und er entstand aus einer privaten Initiative heraus. In Leipzig wurde das Projekt von Bürgermeister Otto Georgi initiiert, der mit einigen Dutzend Mitstreitern eine Aktiengesellschaft zur Errichtung und Betreibung eines Palmengartens gründete. Ich denke, über das Verhältnis der zwei Messestädte Frankfurt und Leipzig muss ich nicht viel sagen. Der Leipziger Oberbürgermeister hatte aber mehr im Blick als nur mit Frankfurt gleichzuziehen, denn die Stadt hatte eine Vervielfachung der Einwohnerzahl zu bewältigen (1871: 107.000, 1899 450.000) und war eine aufsteigende Industriestadt. Der Bedarf an Erholung und Entspannung außerhalb der Fabriken und der engen Stadtmitte, die um die Jahrhundertwende eher einer Großbaustelle glich, war sehr hoch. Das gesellschaftliche Leben der Stadt war sehr vielfältig, es brauchte auch Raum für Veranstaltungen von Vereinen, Unternehmen, Studentenverbindungen, Chören, Logen u.v.a. mehr. Von Vorteil für die Umsetzung der Idee war auch, dass die geplante Fläche durch die Gartenbauausstellung von 1893 bereits größtenteils erschlossen war, und auch die Baumaterialien von der Gewerbeausstellung von 1897 wiederverwendet werden konnten. Man musste sozusagen nicht von Null anfangen. Von Anfang an hat die Stadt Leipzig dem Projekt wesentliche finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt. Es ging dem Bürgermeister aber ganz klar auch um die Aufwertung der Stadt als lohnendes Besuchsziel für auswärtige Gäste. Ich habe eine ganze Reihe von Postkarten, auf denen der Palmengarten gemeinsam mit dem Alten Rathaus, der Thomaskirche, dem Mendebrunnen, der Kongresshalle am Zoo und vielen anderen Sehenswürdigkeiten, die wir größtenteils heute noch kennen, abgebildet ist. Der Palmengarten war eine Attraktion nicht nur für die Leipziger. In den 30er Jahren ist z.B. auch der Stummfilmstar Henny Porten im Palmengarten gewesen und hat Autogramme gegeben. Der Park hat aber auch ausländische Besucher angezogen. In meinem Besitz sind Ansichtskarten, die in Englisch, Französisch, Niederländisch und sogar Japanisch geschrieben wurden! Würden Sie sagen, dass die Geschichte des Leipziger Palmengartens vergessen ist? Gibt es Gründe warum wir sie nicht vergessen sollten? Das kommt auf die Perspektive an. Für mich ist sie inzwischen kein Fragezeichen mehr und durch die regelmäßigen Führungen versuche ich meinen Beitrag dafür zu leisten, dass dieses Stück Stadtgeschichte in Erinnerung bleibt. Unbestritten ist das Potential vorhanden, im Park selbst die Vergangenheit ins Heute zu holen. Dabei denke ich nicht zwingend an Informationstafeln, sondern der bisher noch kaum konzeptionell gestaltete Park könnte als Modell für einen ganz modernen Park des 21. Jahrhunderts werden: interaktiv, multimedial. Ich habe zum Beispiel woanders schon Parkbänke gesehen, die auf Knopfdruck Musik spielen oder kleine Räume, in denen man per Augmented Reality in die Kostüme der Zeit schlüpfen kann. Die Aneignung von Geschichte muss nicht langweilig sein. Modernes Ausstellungsdesign kann hier vielfältige Anregungen bieten. Die Stadt Leipzig könnte in die Fußstapfen von Otto Georgi treten und einen Park kreieren, der wieder zum Anziehungspunkt nicht nur für Leipziger sondern auch auswärtige Gäste wird. Das wäre gleichermaßen eine … Weiterlesen

Gespräch mit Experten – Dr. Enrico Ruge-Hochmuth zur STIGA

Dr. Enrico Ruge-Hochmuth beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit den Themen der Industriekultur und speziell mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Sein Buch gibt erstmals einen Gesamtüberblick über das sächsische Ausstellungswesen bis ins 20. Jahrhundert hinein und ordnet diese in einen regionalen, nationalen und internationalen Kontext ein. Herr Ruge-Hochmuth, Sie beschäftigen sich mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Was erzählen Sie Jemandem, der nichts über die Gewerbeausstellungen weiß? Welche Bedeutung würden Sie der STIGA 1897 in Leipzig zusprechen? Ab dem frühen 19. Jahrhundert gab es Ausstellungen, die zu Volksfesten wurden. Sie verbanden Industrie und Kultur miteinander und prägen unser Konsumverhalten bis heute. Denn dort wurde diskutiert und ausgezeichnet, was „schön“ oder was „funktionell“ ist, die Gesellschaft für den Umgang mit Design sensibilisiert. Auch regionale Produktmarken, wie „Plauener Spitze“, „Bautzner Senf“ oder „Glashütter Uhren“ wurden durch diese Veranstaltungen nachhaltig verfestigt. Aber der Bildungsaspekt spielte auch eine Rolle, um Ängste vor der technisierten Welt abzubauen. Der Industriemensch tickt anders und sollte gut funktionieren. So konnte das Produkt und oft auch dessen Herstellungsweise direkt erfahren und manchmal auch in kulturelle Zusammenhänge eingebettet erlebt werden. Die während der Ausstellung täglich erscheinende Ausstellungszeitung druckte man beispielsweise vor den Augen der Besucher auf einer neuartigen Rotationsdruckmaschine. Heute tanzen Menschen nach dem Sound der Maschinen „Techno“ und betrachten maschinell hergestellte Massenprodukte als Kunstform, die zumeist trivial anmutenden Massenprodukte werden bis heute zum einzigartigen Kulturerlebnis stilisiert. Warum gab es so viele Preise? So viel Aufwand im Auf- und Abbau für einen Ausstellungszeitraum von sechs Monaten? Die Aussteller waren zumeist kleine und mittelständische Produzenten und Gewerbetreibende. Sie wollten neue Kunden und Ausstellungsmedaillen gewinnen. In vielen Kategorien wurden solche Preise vor Ort vergeben, um sie anschließend werbewirksam für den Verkauf einzusetzen. Schauen Sie mal auf eine Becks- oder Radeberger-Flasche, da finden Sie die Medaillen noch heute auf dem Etikett. Die Besucher aus dem näheren und weiteren Umland kamen freilich auch, weil ihnen Superlative und außerordentliche Erlebniswelten versprochen worden. So wurde das „Thüringer Dorf“ oder das „Alte Leipzig“ mit allem was so dazu gehört nachgebaut und von kostümierten Schaustellern bevölkert, im Ausstellungsteil „Deutsch-Ostafrika“ wurden sogar – auch damals war das umstritten – „echte Eingeborene“ zur Schau gestellt. Für die Besucher war das Reisen durch inszenierte Welten, die sie in der Realität kaum hätten machen können, ein Highlight. Gibt es Parallelen zum heutigen Streben nach überregionalem Prestige? Der urbane Wettstreit hat in den letzten einhundert Jahren nicht abgenommen. Leipzig will sich nach wie vor als Handels- und Kongressmetropole überregional vermarkten, sucht Wege und Möglichkeiten sich international zu profilieren. Trotz aller Virtualität existieren noch immer kleinere, thematisch sehr fokussierte Formate, die genauso direkt auf das Konsumverhalten abzielen. Die „Eventisierung“ spielt dabei nach wie vor eine große Rolle. Die Veranstaltungsgäste, da hat sich bis heute nichts geändert, wollen gut unterhalten werden. 2022 begeht Leipzig das 125-jährige Jubiläum der Gewerbeausstellung. Was steht für Sie hierbei im Vordergrund? Generell sollten wir Tradition und Zukunft miteinander verbinden, an etwas „Gedenken“ klingt immer so nach Friedhof. In der Auseinandersetzung mit dem Thema würde ich für ein aktiveres Fortschreiben plädieren. Die Ausstellungen waren damals ein Ort des öffentlichen Diskurses, beispielsweise über modernes Wohnen, innovatives Bauen, Freizeitgestaltung oder Hygiene. Wir sollten dies konsequent weiterführen und uns auch an den historischen Orten über unser Arbeits- und Freizeitverhalten, den Umgang mit Realität und Virtualität oder ähnlichen Themen auseinandersetzen. Insofern könnte die Entdeckung der heutigen Parkanlage, das ehemalige Ausstellungsgelände, einen spannenden Rundgang bergen, der den Bogen vom Gestern zum Morgen spannt. Mehr Informationen erfahren Sie in meinem Buch. Aktuelles: www.stiga-leipzig.de

DSGVO Cookie Consent mit Real Cookie Banner