Aus der Presse – Park Meusdorf wird zum Luna-Park umgestaltet

Ein Leipziger Lunapark. Den gibt es zwar noch nicht, aber es wird nicht mehr lange dauern, dann wird Leipzig einen solchen Lunapark haben, auf den es stolz sein darf. Hinter dem Völkerschlachtdenkmal nämlich, im Park Meusdorf, wird dieser Lunapark entstehen. Herr Julius Guthardt, der jetzige Besitzer von Park Meusdorf und bestens bekannte Wirt des Lehrervereinshauses in der Kramerstraße, hat mit der Umgestaltung des Etablissements Park Meusdorf bereits begonnen, und wenn diese Umgestaltung in etwa drei Wochen beendet sein wird, kann man mit Fug und Recht von einem Leipziger Lunapark sprechen. Schon jetzt zeigt sich, was dort entstehen wird. 30 000 Menschen wird das Riesenetablissement in Zukunft aufnehmen und bewirten können und allein für 10 000 Personen sind bei ungünstiger Witterung überdachte Räume vorhanden. Die Gaststube im alten Gebäude ist schon jetzt fertig und macht in ihrer neuen Dekorierung einen sehr anheimelnden Eindruck. In der ersten Etage soll der alte Tanzsaal zu einer niedersächsischen Bauernstube und somit zu einem gemütlichen Kneiplokal umgestaltet werden. Vom Parkeingang links werden die Kassenräume, rechts ein Postamt und eine Sanitätswache Platz finden. In der Ostfront des Grundstücks entsteht ein großer Musikpavillon für die Militärkonzerte, die vom Frühjahr ab im Park Meusdorf geboten werden. Der Riesentanzsaal wird um 464 qm vergrößert und wird dann der größte Tanzsaal Deutschlands werden. Seine innere Dekoration — die Wände zeigen unten ein schlichtes graues Paneel und darüber ein leuchtendes Gelb, zu dem das goldgelbe Gewebe, das unter dem Dache ausgespannt ist, und das völlig in Dunkelblau gehaltene Orchester, eine geschmackvolle Farbenkomposition geben. Hinter dem Tanzsaal ist das neue Weinfoyer bereits fertiggestellt. Ein lauschigeres Plätzchen zum Erholen während der Tanzpausen kann man sich kaum denken. Grünes Linoleum bedeckt den Fußboden, die Wände zeigen über einem gelben Paneel glattweiße Flächen, die nach oben durch goldene Lorbeer-Girlanden abgeschlossen sind. Durch farbenprächtige künstliche Weinspaliere sind lauschige Nischen geschaffen, in denen bequeme weiße Korbsessel zum Sitzen laden. Der Theatersaal wird von einem völlig abgeschlossenen Gesellschaftsgarten umgeben werden, an dessen südlicher Ecke die Rostbratwurstbraterei ihren Stand finden soll, während an der nördlichen Seite eine Außenküche mit Schlächterei, eigener Bäckerei, einem großen Bier-Büfett und Kaffeeausgabe ihren Platz finden wird. Die nördliche Ecke sollen große Schuppen füllen, die für 60 Wagen und Autos Unterstand bieten. Vielleicht aber das Eigenartigste und Anziehendste des neu entstehenden Riesen-Etablissements wird der Kinderspielplatz. Hier wird nicht nur dem Spiel die Hand geboten, sondern eine mustergültige, der wertvollen körperlichen Betätigung der Jugend gewidmete Anlage geschaffen. Vier Karussells, die modernsten Turn- und Sportgeräte sollen hier den Kindern Unterhaltung und körperliche Bewegungsmöglichkeit bieten. Um den Spielplatz wird eine Reitbahn für Eselreiten und um diese eine abgeschlossene Fahrbahn angelegt, auf der in kleinen Korbwagen mit Schottland-Ponys Spazierfahrten unternommen werden — alles für 10 Pfennige —. Neben dem Kinderspielplatz entstehen zwei ganz neue Hallen für 2500 Personen. Diese Hallen find verbunden durch eine Ueberbrückung, auf der eine zweite Militärkapelle auch in diesem Teil des Parkes für musikalische Unterhaltung besorgt sein muß. Besonders hervorzuheben ist noch, daß das ganze Riesenetablissement eine neue eigene Kläranlage und eine neue Anlage für eine feenhafte Beleuchtung erhalten hat. In sanitärer Hinsicht dürfte Park Meusdorf vorbildlich sein, und das zuvor Gesagte deutet an, daß dieses Riesenvergnügungsetablissement einzig dastehen dürfte und eine Zierde Leipzigs sein wird. Ein Leipziger Luna-Park, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Handelszeitung. Sonntagsausgabe vom 13. November 1910, S. 13.

Aus der Presse – Die Frühjahrs-Rennen im Scheibenholz

Die lakonische Prognose „Nordwestwind, wolkig, kühl, Regen“ ließ für gestern, den ersten Tag des Frühjahrs-Meetings, nicht viel Erfreuliches erwarten, zumal das zweite Rennen mit einem leichten Regenschauer einsetzte und damit recht pessimistische Lenzgefühle erweckte. Doch nur eine Stunde malte sich der Himmel in Grau, dann setzte ein leichter Wind ein, schob den düstern Vorhang zurück und gab die wärmsten Sonnenstrahlen frei. Nun lag der smaragdgrüne Plan, umgürtet von dem im frischen Maiengrün prangenden Waldsaum und umzogen von Schwarzdornhecken, frei und gab damit dem bunten Bilde den heiteren farbensatten Untergrund. Der Frühling prägte sich auch sattsam in den geschmackvollen Toiletten der Damenwelt aus: die Vorliebe für leuchtende Rosen, für Flieder und Vergißmeinnicht, Margueriten ließ ihre Hüte mit reichem Blumenschmuck zieren und die diskreten blauen, graublauen und grüngrauen Farben der Roben trugen in die Besuchermengen einen aparten Schimmer. Zahlreiche Uniformen belebten das wechselnde Bild auf der Tribüne, wie auf dem Sattelplatz. Große Gruppen Wettlustiger drängten sich dann gleich einem Bienenschwarm zum Totalisator, sammelten sich dann, als die schrillen Startglocken zum Kampf auf dem Rasen riefen, längs der Bahn und auf den erwählten Plätzen und harrten des fesselnden, sportlichen Schauspiels. Auf dem Sattelplatz konzertierte das Musikkorps des 19. Husarenregiments, drüben am Damm die Kapelle Gustav Curth. Es war ein verdienstvolles, freudig begrüßtes Entgegenkommen des Direktoriums des Leipziger Rennklubs, daß es diesmal mit Rücksicht auf die Leipziger Geschäftswelt den Beginn des Rennens auf 3 ½ Uhr angesetzt und damit die Gelegenheit zu einem noch nie dagewesenen Besuch des Rennens gegeben hatte. Diese Einrichtung wurde dankbar anerkannt. Die Tribüne, von deren Türmen die Fahnen lustig im Winde flatterten, war gut besetzt und auch der Sattelplatz zeigte einen Verkehr, dem bei der begreiflichen Spannung der einzelnen über den Ausfall des Rennens jene Lebhaftigkeit innewohnte, wie sie sich immer bei den sportlichen Ereignissen auf dem weiten herrlichen Gelände am Scheibenholz zu äußern pflegt. Unsere den Rennsport aufmerksam verfolgende Leipziger Bürgerschaft lieh dem Rennen in allen seinen Phasen wiederum ein hohes Interesse und die militärischen Kreise, in deren Mitte sich auch der Brigadekommandeur Generalmajor Gadegast befand, waren in stattlicher Zahl vertreten. Alles in allem hinterließ das Rennen, dem der Himmel seine Gunst doch noch gegeben hatte, den befriedigsten Eindruck bei allen, die ihm beiwohnten und die mit dieser Stimmung beim Klang der Abendglocken nach sechs Uhr den sonnenbeschienenen, maigrünen Plan der Leipziger Rennbahn verließen […] [1] Obwohl die Wetterprognose für den gestrigen Tag wenig aussichtsreich gegeben war und durchaus keine besonders befriedigenden Stunden für den anregenden Rennsport, der seine wachsende Volkstümlichkeit zu bewahren weiß, verhieß, so hatte doch die sportliche Veranstaltung unseres Rennklubs ungezählte Scharen von Besuchern zur herrlichen Bahn am Scheibenholz geführt und ihnen am vierten Renntag ein vom Himmel vollauf begünstigtes equestrisches Schauspiel bereitet. Kühl zeigte sich die Temperatur, wolkig der Himmel, aber der kräftig wehende Wind trieb die drohenden Regenwolken nach und nach hinweg, öffnete ihren schweren Schleier und machte den Aether frei, so daß sich am Ende der ohne Unfall verlaufenen Rennen lachender Sonnenschein über das weite Gefilde ergoß. Post nubila Phoebus! Die Anziehungskraft des anregenden Sports ließ schon frühzeitig die Massenwanderung nach Damm, Tribüne und Sattelplatz entstehen. Hinter den geschnittenen grünen Buschbarrieren, welche die Bahn von dem Fahrweg trennen, rollten unaufhörlich Droschken, Automobile, Equipagen nach dem Plan und seinen einzelnen Beobachtungsplätzen, und hier entwickelte sich bald ein buntbelebtes Bild des Verkehrs, wie es die Rennen zu Leipzig immer aufzuweisen pflegen. Weithin trug der Wind den Schall der Weisen, die bald von der Kapelle des 77. Artillerie-Regiments auf dem Sattelplatze, bald von der Kapelle Gustav Curth auf dem Damm angestimmt wurden, und verlieh dem Rennen das gewohnte musikalische Signum. In tadellos schöner Verfassung lag der herrliche Rennplan vor aller Augen. Seine leicht geschwungene Linienführung in Elipsenform, seine glatt geschnittenen grünen Hürden, seine vollen Büsche stempelten ihn aufs neue zu einer einzigartigen landschaftlichen Anlage. Es läuten die Glocken zum Start. Im raschen Bewegen sucht die Menge ihren Platz. Die einen schauen von der Plattform des Verwaltungsgebäudes, das leuchtende Crimson Rambler umziehen, dem fesselnden Rennen zu, die andern von der Orchesterhalle, die scharlachrote Geranien umsäumen, während die übrigen sich weit über das Gelände verteilen. Das Rennen beginnt mit allen seinen spannenden Phasen. Alles drängt sich an die Barrieren, dann wird der Sieger mit einem schmetternden Tusch empfangen. Sein Ehrenpreis befindet sich unter den Trophäen, die in einer Vitrine die vom Leipziger Rennklub gestifteten kostbaren Stücke, einer Kristallbowle mit Silberbeschlag, einem vergoldeten hohen Pokal, einem Silberbesteckkasten und einer goldenen ziselierten Fruchtschale bestanden. Die sommerliche Zeit hatte auch gestern wieder ihren Einfluß auf die Toiletten geltend gemacht und anziehende Modebilder innerhalb der Besucherwelt zum Vorschein kommen lassen; duftige Toiletten in Hellblau, in Resedagrün, in lichtem Gelb und Lila, in Braun und in Weiß, überlegt oft von leichten Schleiern, selbst wie es die neueste Mode gebieterisch erheischt, „gebunden“, und große Hüte mit Reiherstutz und Straußenfedergarnitur und mit einer Fülle von Blumen. So verlieh die Damenwelt dem Ganzen das freundliche Relief. — Kurz nach 6 Uhr waren die interessanten Rennen beendet, die wiederum den Beifall der ungezählten Tausende gefunden haben […] [2] [1] Die Frühjahrsrennen zu Leipzig. Erster Tag, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Handelszeitung. Sonntagsausgabe vom 16. Mai 1909, S. 14. [2] Die Rennen zu Leipzig, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Handelszeitung. Frühausgabe vom 27. Juni 1910, S. 2.

Aus der Presse – Die Tradition des Leipziger Fischerstechens

Zu den besonderen Vergnügungen, die einst dem kurfürstlichen Hof bei seinen Meßbesuchen in Leipzig wiederholt bereitet wurden, gehörte auch das Fischerstechen, eine Leipziger Lustbarkeit, die schon bei dem Leipziger Freischießen im Jahre 1559 vor dem Kurfürsten abgehalten und im 17. Jahrhundert in dem sogenannten „Gerberstechen“ weitergeführt wurde. In der Gestalt, wie es noch in den letzten Jahrzehnten abgehalten zu werden pflegte, stammt es aus dem Jahre 1714. Das erste fand am 12. Mai 1714, am Geburtstage des Kurfürsten, in Apels Garten auf der Pleiße statt, und eine Woche später erteilte der Kurfürst der Fischerinnung das „Privileg“, ein solches Fischerstechen alljährlich an seinem Geburtstage abzuhalten. Nach Augusts des Starken Tode wurde das Fischerstechen auf den Namenstag des neuen Landesherrn, den 3. August, verlegt, später einmal auf Bartholomäi, den Tag des Ratswechsels. Auch der Ort hat vielfach gewechselt. War der Hof zugegen, so wurden die Stechen stets in Apels Garten gehalten, außerdem war im vorigen Jahrhundert lange Zeit der Platz „an der Barfußmühle“ oder zwischen der Barfußmühle und dem „Hahnreibrückchen“ in Gebrauch. Unsere Generation entsinnt sich noch der interessanten Wasserspiele auf Schimmels Teich, an den Eiswerken der Leipziger Gastwirte (am heutigen Charlottenhof), auf dem Rohrteich bei Schönefeld, endlich auf das bis auf den heutigen Tag festgehaltene Wasserturnier auf dem Teiche des Kammerherrn von Frege in der Waldstraße, gegenüber dem „Mückenschlößchen“. Dort wurde auch gestern wieder dieses Wasserturnier, das 191. in seiner Reihe, ausgefochten, das traditionelle Aalringen abgehalten und eine lustige Wasserpantomime aufgeführt. Kurz nach 12 Uhr mittags — glühend heiß brannte die Augustsonne hernieder — sammelten im Restaurant Bremme am Frankfurter Torhause Meister und Gesellen der Leipziger Fischerinnung sich zum beginnenden festlichen Innungszug durch die Straßen der Stadt, die stattlichen weißen Gesellen mit den weißgrünen Schärpen, die kurzen Handruder und die vergoldeten Turnierstangen geschultert, voran die altehrwürdige Innungsfahne aus dem Jahre 1715 — fast nur noch ein Fetzen Seidenzeug —, und die neue, vom Obermeister Händel im Jahre 1883 gestiftete Fahne unter der Führung der Obermeister im betreßten Dreimaster. Sie halten fest, die Leipziger Fischer, an den Gerechtsamen, die ihnen der prachtliebende, festfrohe Kurfürst August der Starke verlieh, als sie bei seinem Aufenthalt in Leipzig ihm auf der Stelle, wo heute das Zentraltheater sich stolz erhebt, ein Wasserkampfspiel nach fremdländischem Vorbild zwar, aber mit einer guten Dosis altgermanischen Fischerhumors durchsetzt, aufführten. So marschierten die Fischer, an ihrer Spitze die Obermeister Carl Müller und Emil August Böse, nachdem die beiden schneeweiß gekleideten baumlangen Mohren, an deren haubitzenartigem, federbebuschtem Zylinder sinnige Myrtensträußchen befestigt waren, nochmals auf die Haltbarkeit ihres wetterbeständigen Anstrichs ganz gewissenhaft untersucht worden waren, mit den „Piken“ in den Händen, mit bunten, wappengeschmückten Handrudern und mit Turnierlanzen versehen, unter Tambourwirbel und Trompeterblasen der marschgewandten Kapelle Eyle durch die Straßen und über die Plätze der Stadt. Unterwegs wurden die üblichen Fahnensalute gegeben. Wie sich schon zu der Urgroßväter Zeiten gewaltige Scharen alter und junger Menschenkinder an den hervorragenden Schwimm- und Turnkünsten, den mannhaften Turnieren der Stechkähne untereinander, den Burlesken der Wasserclowns, dem Aalkampf und der großen Wasserpantomime ergötzten, so wanderten auch gestern wieder taufende fröhlicher Menschenkinder nach dem baumumgürteten Weiher an der Waldstraße, um ihre Lust an dem heiteren, bunten Treiben der Fischer im feuchten Element zu haben. Unter den geladenen Ehrengästen, die in besonderen, von den Obermeistern gesteuerten Festgondeln Platz genommen hatten, waren auch Wirkl. Geh. Rat Kreishauptmann Dr. v. Ehrenstein, Exzellenz, Generalmajor Pfeil und Oberst Hesselbarth zu bemerken. Nach dem lustigen Spiel der pudelnassen Wasserclowns maß sich, Stechkahn gegen Stechkahn, das lustige Volk der Fischer; es legte Lanze auf Lanze ein, bis die Besiegten ihr Unterliegen endlich durch ein nasses Bad bestätigt fanden. Dann folgte das Aalringen, bei dem die Fischer, groß und klein, sich um das Erhaschen der schlüpfrigen Beute mühten und unablässig den am Tau schwingenden glatten Fisch zu erwischen trachteten. Es war ein Jubel rings an den Ufern, als dies den Geschickteren glückte. Wie immer, so spielte sich auch am Schluß des Leipziger Fischerstechens auf dem schwimmenden Podium eine große Wasserpantomime ab, die den vielversprechenden Titel „Im internationalen Café zur friedlichen Wirtin“ oder „Eine verhängnisvolle Nacht“ führend, sämtliche Akteurs, freiwillig oder unfreiwillig, mit dem Wasser in Berührung brachte und dem russisch-japanischen Konflikt einfach dadurch zu einer befriedigenden Lösung verhalf, als der dem Japaner unbequeme Russe durch ein kaltes Bad friedlicheren Anschauungen zugänglich gemacht wurde. Damit schloß das fröhlich verlaufene heurige Fischerstechen. Seine Aktiven aber versammelten sich am Abend mit den Ihrigen im Hotel „Stadt Nürnberg“ zu Festmahl und zum „Willkommentrunk“, bei dem Obermeister, Meister, Gesellen, Meisterfrauen und Meistertöchter mit einem Trunk aus den schweren Silberpokalen Gesundheit ausbringen mußten. — m. Das Leipziger Fischerstechen, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Handelszeitung. Frühausgabe vom 4. August 1905, S. 6.

Gespräch mit Experten – Michael Liebmann zum Brandvorwerk

Michael Liebmann hat mit seinen Recherchen über das Leipziger Brandvorwerk die Geschichte eines nahezu vergessenen Ortes wieder zum Leben erweckt und ein gut lesbares Buch geschrieben, das auf Grundlage akribischer Archivrecherche qualitative Maßstäbe zur Erforschung der Stadtgeschichte setzt. Dabei stellte er unter anderem heraus, wie die Besitzer des Vorwerks über die Jahrhunderte hinweg mit den Rechten und Privilegien jonglierten, wie der Ort mit der Siedlungsgeschichte und den Calvinistensturm in Leipzig verknüpft ist. Er verdeutlicht anschaulich, welchen Anteil das Brandvorwerk für die Entwicklung der heutigen Südvorstadt hatte. Empfehlenswert nicht nur für Geschichtsinteressierte, sondern für alle, die die Vergangenheit anhand historischer Quellen aus einer anderen Perspektive entdecken wollen. Herr Liebmann, Sie haben sich mit der Geschichte des Brandvorwerks in Leipzig beschäftigt und ein Buch geschrieben. Wie kamen Sie dazu, was hat Sie dazu bewogen, zur Lokalgeschichte zu forschen? Von Hause aus bin ich Gymnasiallehrer für Geschichte, Politik und Deutsch, arbeite aber seit nunmehr 15 Jahren als freier Autor, schreibe Fachartikel und Sachbücher und arbeite aktiv im Bürgerverein Pro Leipzig e.V. mit. In meinen Texten geht es meist um die Vorgeschichte nach Leipzig eingemeindeter Orte. Meiner Meinung nach lag das Hauptaugenmerk der Geschichtswissenschaft früher etwas zu sehr auf Alt-Leipzig. Dies ist natürlich nachvollziehbar und generiert auch eine größere Leserschaft. Aber die Historie der im 19. und 20. Jahrhundert angeschlossenen Gemeinden kam mir da zu kurz, steht erst seit den Forschungen zur vierbändigen Stadtgeschichte um 2015 mehr im Fokus. Das begrüße ich sehr, denn was gibt es Spannenderes, als den Kontrast von Stadt und Dorf zu beschreiben und die komplexen Stadt-Vorort-Beziehungen zu erforschen? Jemand, der in Böhlitz-Ehrenberg wohnt, hat doch ein ganz anderes Leipzig-Bild als ein Innenstädter. Die Leipziger Identität ist doch die Summe der Erfahrungen aller Bürgerinnen und Bürger – ob sie im Zentrum wohnen oder in der Peripherie. Das ist es, was mich interessiert. Der Marktplatz dagegen ist schon tausendmal beschrieben und bebildert. Ihr Buch widmet sich dem Brandvorwerk und den Anfängen der Leipziger Südvorstadt. Könnten Sie uns einen Einblick in die Entstehungsgeschichte geben und erklären, was Sie dazu inspiriert hat? Als ich 2008 nach vier Jahrzehnten Abwesenheit in meine Geburtsstadt Leipzig zurückzog, verschlug es mich in die Südvorstadt. Und weil ich den inneren Drang habe, von jedem Ort, an dem ich mich länger als eine Stunde aufhalte, auch die Historie zu erkunden, war es natürlich ganz selbstverständlich, mich auch mit meinem direkten Wohnumfeld zu beschäftigen. Da kam ich dann auch an einem Schild mit dem Namen „Brandvorwerkstraße“ nicht vorbei. Eine Straße, die nach einem Vorwerk benannt ist? Das klang interessant. Darüber wollte ich mehr erfahren. Aber die Suche nach Informationen in der einschlägigen Literatur enttäuschte: Das Brandvorwerk kam nirgends vor oder wurde nur in knappen Fußnoten abgetan. Ich habe mich damals dort sogar einen Samstag-Nachmittag an eine Straßenecke gestellt und über 60 Passanten gefragt, was es mit diesem Vorwerk auf sich hat. Nur einer konnte mir grob eine Antwort geben. Da dachte ich: Okay, muss ich das eben selber machen. Das Brandvorwerk ist vielen Menschen heute weniger bekannt. Könnten Sie uns kurz erläutern, warum der Ort in der Geschichte Leipzigs eine bedeutende Rolle spielte? Gab es mehrere dieser Orte? Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nannte man einen landwirtschaftlichen Gutshof, der sich außerhalb einer Burg oder Befestigungsanlage befand, ein Vorwerk. Und weil das Wort Bürger von Burg kommt, bezeichneten die Leipziger die ihnen gehörigen Gutshöfe vor den Toren der Stadt ebenfalls als Vorwerke. Davon gab es allerdings mehrere, diesbezüglich war das Brandvorwerk nichts Besonderes. Außergewöhnlich – und heute fast vergessen – ist allerdings der Fakt, dass dieser Gutshof den Großteil der Flur eines wüst gefallenen Dorfes besetzte. Dieses einst von den Slawen gegründete und wohl Ende des 14. Jahrhunderts verlassene Lusitz ist heute noch weniger Leuten bekannt als das Brandvorwerk – an diesen Leipziger Vorort erinnert nicht einmal ein Straßenname. Und doch handelt es sich dabei um die historische Wurzel der heutigen Südvorstadt. Die umfasst heute ein Gebiet von etwa 2,5 km2, aber im Hochmittelalter war die Lusitzer Gemarkung sogar 3,2 km2 groß. Das bedeutet, dass sich Leipzig und Connewitz Teile davon einverleibt haben müssen, nachdem die letzten Lusitzer Bauern ihr Dorf verlassen hatten. Land und Leute gehörten übrigens seit Mitte des 13. Jahrhunderts dem Leipziger Nonnenkloster St. Georg. Dazu zählte auch eine Wassermühle, die in etwa dort stand, wo sich heute der kleine Dürrplatz befindet: westlich der Kreuzung Wundt- und Kurt-Eisner-Straße. Das Kloster seinerseits stand im Schatten der Pleißenburg und also fast zwei Kilometer nördlich der Mühle. Deshalb baten die Nonnen den Landesherrn und die Stadt im Jahr 1287, den Pleißemühlgraben bis nach Lusitz zu verlängern und die Mühle direkt ans Kloster versetzen zu dürfen. Die Nonnenmühle existierte dann dort, vis a vis der Pleißenburg, noch bis 1890. Den Pleißemühlgraben gibt es, teils verrohrt, teils wieder geöffnet, noch heute. Von seiner Verbindung mit Lusitz wissen nur wenige. Im Übrigen haben die Georgennonnen dann im 15. Jahrhundert auf der verlassenen Lusitzer Flur eine Schäferei eingerichtet. Seitdem besetzte also ein Vorwerk eine Dorfgemarkung. Ein solches Rechtskonstrukt gab es auch im wüst gefallenen Pfaffendorf, auf dessen Flur sich heute der Leipziger Zoo ausbreitet. Ihre Forschung basiert auf umfangreichen Archivrecherchen. Könnten Sie uns etwas über die Quellen und Materialien erzählen, auf die Sie während Ihrer Arbeit gestoßen sind und wie Sie diese genutzt haben? Als ich wegen des Buches den Sommer 2011 im Stadtarchiv und Staatsarchiv verbrachte, war die Quellensuche noch viel beschwerlicher als heute. Die Aktentitel waren noch nicht digital eingepflegt. Man konnte nicht einfach „Brandvorwerk“ in eine Suchmaschine eingeben und die vorhandenen Titel einsehen. Stattdessen galt es, dutzende handgeschriebene Katalogbücher auf Hinweise zu durchforsten. Das gestaltete sich schwierig, weil die Findmittel im Stadtarchiv und im Stadtgeschichtlichen Museum nach Stadtteilen geordnet waren – und da kam „Brandvorwerk“ gar nicht vor. Der Ort war derart in Vergessenheit geraten, dass ihn nicht einmal die Archivare auf dem Zettel hatten. Ich musste also mühselig sämtliche Akten auf Verdacht anfordern und durchsehen, die irgendwie das Wort Vorwerk beinhalteten. Eine Sisyphusarbeit. Heutzutage sind die Archive viel benutzerfreundlicher. Da braucht man nur noch das Schlagwort Brandvorwerk eingeben … Weiterlesen

Aus der Presse – Das Gosenthal im Brandvorwerk vorm Abriss

Eins der älteren Tanzlokale in unserer Stadt, „Das Gosenthal“ am Ausgange der Dufourstraße, wird demnächst abgebrochen werden. Auf dem Areal, das sich im Besitz von Oelschlegels Erben befindet, sollen Wohngebäude ausgeführt werden. Das „Gosenthal“ wurde im Jahre 1862 vom Restaurateur Barthmann erbaut. Es hat also ein Alter von etwas über 40 Jahren erreicht. [Anm. Red.: Das Gosenthal existierte bereits vor 1862.] Das Gosental, dessen bevorstehenden Abbruch wir schon kurz gemeldet haben, ist der letzte Rest des ehemaligen Brandvorwerks, das seinen Namen davon erhalten hatte, daß es am 27. Juni 1593, weil es für einen Hauptversammlungsort der heimlichen Calvinisten (Kryptocalvinisten) Leipzigs galt – es war damals in dem Besitz eines Dr. Peter Roth –, von deren Gegnern in Brand gesetzt worden war. Im 17. und 18. Jahrhundert war das Brandvorwerk ein Hauptvergnügungsort der Leipziger. Wer wissen will, wie es da zuging, der lese die ausführliche zweihändige Beschreibung, die 1746 unter dem Titel „Angenehmer Zeitvertreib des großen und mannigfaltigen Vergnügens auf dem weltberühmten Lustsaale des sogenannten Brandvorwerks ohnweit Leipzig“ erschien. Die Besitzer hatten das Wohnhaus mit Garten an Bierwirte verpachtet und zahlten für die Erlaubnis, fremdes Bier hier verzapfen zu lassen, ein bestimmtes jährliches Spundgeld an den Burgkeller, anfangs 100, später 150 Taler. Zu diesen Besitzern des Vorwerks gehörte auch der bekannte Leipziger Dichter und Schriftsteller Mahlmann, und später dessen Witwe. Ihnen wurde das Spundgeld bedeutend herabgesetzt. Die Witwe bezahlte nur noch 60, seit 1836 bloß noch 40 Taler, bis mit dem Jahre 1838 alle Spundgelder des Burgkellers wegfielen. Im Jahre 1839 parzellierten die Mahlmannschen Erben ihren Besitz, das Schankgut mit Garten erstand ein gewisser Hesse, der die Absicht hatte, eine „seine Restauration“ (!) hier einzurichten, und, nachdem er die Konzession dazu erlangt hatte, die neue Schankwirtschaft 1842 mit dem Namen Gosental belegte, auf dessen Erfindung er nicht wenig stolz gewesen sein mag. Aber schon 200 Jahre früher, 1643, hatte der damalige Besitzer des Brandvorwerks ein Stück seines Gartens verkauft, und aus diesem abgetrennten Stück richtete in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Nachbesitzer ebenfalls eine Schänke ein, so daß man nun zwischen der vorderen und der hinteren Brandschänke unterschied. Da aber an dem Betriebe der hinteren Schänke wiederholt Bäcker beteiligt waren, so nahm sie mehr den Charakter eines Kuchengartens an. Aeltere Leipziger werden sich noch mit Vergnügen der Brandbäckerei erinnern, deren kleiner Vorgarten mit seiner Ecklaube im Sommer, und deren oberes Stockwerk im Winter Sonn- und Wochentags viel besucht wurde, und wo der Student Sonnabends nach Tische einen stillen, gesitteten Kaffeeskat spielte. Der Gang nach dem Brandvorwerk oder, wie man kurz sagte, „aufs Brand“, war noch Anfang der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts ein Spaziergang im Freien, denn die Stadt war hinter dem Peterschießgraben zu Ende; dahinter lag der Floßplatz, auf dem das winterliche Stipendienholz für den armen kaffeeskatspielenden Bruder Studio fein säuberlich klasterweise aufgeschichtet stand. Das Alte stürzt!, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Frühausgabe. 2. Beilage vom 20. Januar 1904, S. 433. Das Gosenthal., in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger, Frühausgabe. 2. Beilage vom 21. Januar 1904, S. 457.

Aus der Presse – Beitrag von Ernst Kiesling zum Gohliser Schloß

Mit sichtlichem Eifer ist unsere Zeit bemüht, Kunstwerke früherer Zeiten zu sammeln, alte Baudenkmäler vor dem Verfall zu bewahren und soviel als möglich davon zu retten, was entweder durch die Greuel des Krieges oder den Unverstand gelitten. So ist es denn auch mit Freuden zu begrüßen, daß das vom ehemaligen Kammerrath und Rathsbaumeister Caspar Richter in den Jahren 1755-1756 erbaute Gohliser Schloß durch den hiesigen Architekten Alfons Berger einer durchgreifenden Renovation unterzogen und somit auf lange Zeit hinaus aufs Neue gefestigt worden ist. Ueber die Geschichte dieses interessanten Bauwerkes ist bereits früher an dieser Stelle berichtet worden; nur soviel sei heute noch ergänzend hinzugefügt, daß das Schloß nebst dazu gehörigem Gut (das Ganze wird bezeichnet als „Thurmgut“) im Jahre 1863 durch Kaufmann Nitzsche von dem damaligen Besitzer Domherrn von Alvensleben erworben wurde. Eine Zeit lang im Besitze der Nitzsche‘schen Erben, ging das Schloßgut am 1. Januar 1900 in die Hände des Herrn Amtmanns Carl Georg Nitzsche, Rittergutspächters auf Thonberg, über. Ende Juni 1900 wurde auf dem Gut der landwirthschaftliche Betrieb eingestellt und im darauf folgenden Monat mit den Abbruchsarbeiten der dem Schlosse vorgelagerten Viehställe und Scheunen, sowie mit der Renovation des Schlosses selbst begonnen. In vergangener Woche sind die Ausschachtungsarbeiten in Angriff genommen worden, welche sich für die Ausführung der neuen Baulichkeiten nöthig machten, die das Schloß nach der Menckestraße zu umrahmen werden. Diese Gebäude werden sich den Architekturformen des Schlosses in feinsinniger Weise anschließen und mit demselben ein reizvolles architektonisches Gesammtbild darbieten. Zu besonders wirkungsvoller Geltung wird jedoch die eigentliche, nach dem Poetenweg gelegene Hauptfaçade des Schlosses gelangen, wenn erst die bereits in Aussicht genommene Umwandlung dieses bisherigen Fußgängerweges in eine Straße durchgeführt worden ist. Der eigenartige Reiz, welchen die Rococoarchitektur birgt und der namentlich in der überaus wirksamen malerischen Gruppirung seiner Bautheile beruht, wird nach dieser Seite, erhöht durch die landschaftliche Umgebung, zu schönstem Ausdruck kommen. Die vor Kurzem vollendete Renovation des Schlosses zeigt, in wie pietät- und verständnißvoller Weise abgebrochene und theils zerstörte Details der Architektur wieder angebracht und ersetzt, und auch das Innere durch Wiederherstellung in der ursprünglichen Form, durch Restaurirung der Malereien, Befreiung der künstlerisch durchgeführten Thür- und Fensterbeschläge von dem überdeckenden Anstrich, der Ergänzung der schmiedeeisernen Gitter und Thüren, aufs Neue gewonnen hat. Ein hervorragendes Interesse der inneren Ausstattung des Schlosses nimmt der von Adam Friedrich Oeser mit Malereien decorirte Festsaal in Anspruch. Diese Malereien sind auf Veranlassung des damaligen, durch seine Beziehungen zu Goethe bekannten Professors und Hofraths Johann Gottlieb Böhme entstanden. Kreuchauff schreibt in seiner Abhandlung „Oeser‘s neueste Allegoriegemälde“ (Leipzig 1782, Seite 45-52) darüber: „Hier hat sich eine der Bestimmung des Ortes und der Würde des Besitzers gemäße Mahlerey an Decken und Wänden ausgebreitet. Der Pinsel täuscht an den Wänden das Auge durch architektonische Decorirung. Die Ordnung ist ionisch, die Capitäle der umher vertheilten Pfeiler antik: die in der Manier des De Witt gemalten Büsten und Genien, an den Kaminen und Thürstücken haben, wie die Blumen, Früchte und alle an den Schlußsteinen der Arkaden angebrachten Ornamente, Beziehungen auf die an der Decke ausgeführten Ideen. Hier, wo sich der Bau mit einer Galerie über seiner Kuppel endigt, welcher eine einfache Mosaik die edelste Zierde giebt, ist dem Auge und Geiste eine neue ernstlichere Beschäftigung angewiesen. „Nimm, edle Seele“, sagt das Gemälde, „des Lebens rechten Zeitpunct wahr, in welchem Du am fähigsten bist, Wahrheiten zu erforschen, und durch die Erkenntnis weise und glücklich zu werden!“ Hierauf beschreibt Kreuchauff das Gemälde eingehend, dessen Inhalt hier nur kurz angedeutet sei: Die Betrachtung zieht der Natur von der denkenden Seele den Schleier zurück. Psyche entschwebt mit dem Mittag des Lebens, in Gestalt des Sonnengottes, in lichtvolle Höhen; ihre Erzieherinnen, die Musen, und deren schützende Mächte, Apollo und Herkules (Verstand und Tugend) unter sich lassend. Oeser‘s Stellung in der Kunstgeschichte ist längst gekennzeichnet, und so wissen auch wir heute, daß seinem Werke ein mehr kunsthistorischer als künstlerischer Werth innewohnt. Treffender als Chodwiecki es gethan, kann man seine künstlerische Thätigkeit nicht charakterisiren, und deshalb möge sein Urtheil hier Platz finden. Er sagt u. A.: „Man sieht es dem Manne an, daß er viel Genie hat, aber die Cultur desselben vernachlässigt hat; in seinen Köpfen ist großer Sinn, aber keine Physiognomie, es ist nur der Gedanke eines Gesichts, überhaupt nichts Individuelles. Eben das findet man auch in seinen Figuren, es ist eine Idee von schöner Natur darinnen, zuweilen gut, zuweilen auch sehr fehlerhaft gezeichnet und ohne alle Präcision.“ …. Die beiden Wandbilder mit landschaftlichen Motiven, die „Wartburg“ und den „Kyffhäuser“ darstellend, rühren von der Hand des früheren Leipziger Malers Cellarius her, desselben Künstlers, der die Decken- und Wandbilder im „Café Français“ ausgeführt hat. Die beiden hier in Frage kommenden Bilder sind sehr geschickt behandelt und von guter Gesammtstimmung, freilich ebenfalls ohne tieferen künstlerischen Werth. Die Renovirung sämmtlicher Malereien ist vom Dekorationsmaler Schweikart ausgeführt. Von Ernst Kiesling. Das Gohliser Schloß, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 14. Juli 1901, S. 5058.

Aus der Presse – Der künftige König-Albert-Park

Was zunächst die Gesammtfläche des Parkes anbetrifft, so läßt sich dieselbe auf rund 400 000 qm bemessen. Da der neue Stadtpark bei dieser großen Ausdehnung einen besonderen Anziehungspunct für die gesammte Bevölkerung unserer Stadt abgeben wird, so sind die geplanten Wegeverbindungen in umfassender Weise angeordnet. Namentlich sind sämmtliche Querverbindungen mit der Carl-Tauchnitz-Straße und den Seitenstraßen der Bismarck-Straße berücksichtigt und gleichfalls die Längsverbindungen von der Carl-Tauchnitz-Straße nach L.-Plagwitz und Neuschleußig gebührend berücksichtigt worden. Das Scheibenholz bleibt in seinen Fußwegverbindungen unberührt und es schließen sich die neuen Wege und die Pflanzungen diesen an. Die Umgebung des vorderen Teiches anlangend, so ist zunächst unmittelbar um den Teich ein 2,5 m breiter, durch erhöhten Sandstein abgegrenzter Fußweg angenommen, wobei dem Fahrwege an den beiden Längsseiten des Teiches noch 8 m Breite bleiben, was bei der zweiseitigen Führung als völlig ausreichend angesehen werden kann. In den Ausbiegungen hat der Fahrweg 11 m Breite. Zur besseren Lösung der durch den Teich bedingten Regelmäßigkeit ist auf jede Seite desselben noch ein größeres Rechteck mit Alleebäumen vorgesehen und hierdurch der Uebergang zur natürlichen Anordnung geschaffen. Diese Rechtecke sind geeignet, später eine mehr oder minder reiche Ausschmückung von Blumen und Blattpflanzen aufzunehmen. An das westlich gelegene Rechteck und in der Queraxe des Teiches soll sich ein Hügel anschließen, auf welchem später eventuell ein Musiktempel für öffentliche Promenadenconcerte zu errichten wäre. Hierbei wird die freie Bewegung, begünstigt durch 7 m breite Fußwege, größere Ansammlungen des Publicums gestatten. Der Hügel wird eine wirksame Unterbrechung der sonst ebenen Flächen des Vorgrundes hervorrufen, eine bewegliche Gestaltung desselben durch erhöhte und vertiefte Flächen gestatten, sich günstig von den rückwärts liegenden Anlagen an der Bismarckstraße abheben und die Aussicht über den ganzen Vorgrund (nach dem Teiche, dem Scheibenholze und der Carl-Tauchnitz-Straße) günstig beeinflussen. Dem Hügel gegenüber, östlich vom Teich ist ein größerer Sitzplatz angenommen. Im weiteren Verfolg der König-Albert-Allee ist nördlich von dieser in der Mittelaxe des hinteren Teiches (also dort, wo das Ausstellungs-Varieté-Theater stand) ein Berg gedacht, der eine höhere und kräftigere Gestaltung erfahren soll, als der zuerst gedachte Hügel. Es soll dieser Berg eine Uebersicht über den Gesammtpark gestatten und vermöge seiner Lage als Kernpunct des Parkes zu betrachten sein. Auf der anderen Seite des hinteren Teiches ist am Waldrande des Scheibenholzes eine größere Gastwirthschaft geplant, etwa in den Verhältnissen wie Bonorand im Rosenthale. Dieselbe soll mit Terrassen versehen werden und höher liegen, als der Fluthrinnen-Damm, damit dieselbe aus den Wiesennebeln herausgehoben wird. (In dem jetzigen Plan sind die Kosten für eine solche Gastwirthschaft noch nicht berücksichtigt worden.) Es ist hierbei anzunehmen, daß zwischen Gastwirthschaft, Teich und Berg eine vortheilhafte Wirkung entsteht. Die Umgebung des hinteren Teiches ist im Gegensatze zum vorderen Teiche bewegt gedacht, und zunächst der König-Albert-Allee sind erhöhte Punkte angenommen, welche später durch kleine Tempel, bez. Pavillons verschönt werden können. Diese kleinen Hügel sind durch Steinpackungen mit dem Wasser in natürlicher Art in Verbindung gedacht, so daß kleine Felsenpartien entstehen sollen, die, mit niedrigen Stauden und Sträuchern bepflanzt, den Blick über den Teich freihalten. Im Weiteren sind die Teichufer in der Erdarbeit bewegt gedacht, mit kleinen bepflanzten Erhöhungen, um Abwechselung in die sonst ebenen Flächen zu bringen. Die Wege um den Teich, besonders in der Nähe der Gastwirthschaft, sind für größere Ansammlungen des Publikums berechnet. Im weiteren Verfolg des Planes ist die König-Albert-Allee bis nach Neuschleußig durchgeführt und mit dem Nonnenfahrwege in Verbindung gebracht. In der Mitte zwischen Fluthrinne und Nonnenfahrweg (also etwa dort, wo die Maschinenhalle der Ausstellung gestanden hat) ist ein Rundtheil als Fahrschleife angenommen, welche bei Corsofahrten oder sonstigen Festlichkeiten die Umkehr in leichter Weise gestatten soll. Auf dem Areal jenseits der Fluthrinne, zwischen dieser und dem vorerwähnten Rundtheil, würde auch ein künftiges dauerndes Ausstellungsgebäude seinen Platz erhalten können. Das Areal läßt die Bebauung mit einem Gebäude bis zu 20 000 Quadratmeter Grundfläche zu. (Die Maschinenhalle der Ausstellung bedeckte ohne die Seitenbauten – Metallindustrie, Kirchner – 15 000 Quadratmeter Grundfläche.) Die Kosten für ein solches Ausstellungsgebäude würden allerdings beträchtliche sein. Durch vorstehende Darlegungen ist der Plan im Allgemeinen erläutert. Im Besonderen ist noch Folgendes anzuführen. Der Fahrverkehr ist in der Weise bedacht, daß – außer der König-Albert-Allee – eine Fahrverbindung längs der Fluthrinne in Verbindung der Bismarckstraße mit der Rennbahn angenommen ist. Diese Fahrstraße soll, dem Bebauungsplane entsprechend, mit dem Schleußiger Wege und der Kronprinzstraße in Verbindung gebracht werden. Die Straße ist mit 20 m Breite angenommen und führt die Fußwegpromenade der Bismarckstraße in 8 bez. 9 m Breite weiter bei 11 m Fahrbahnbreite, in welcher ein Reitweg aufgenommen ist. Die Ausführung der Straße wird auf den Baumbestand des Scheibenholzes keinen weiteren Einfluß ausüben. Es werden allerdings (mit Berücksichtigung der Böschung) 163 Bäume zu schlagen sein, von denen jedoch nur 23 Bäume als nennenswerth zu bezeichnen sind. Der Reitverkehr ist in der Weise geregelt gedacht, daß der Reitweg von der Carl-Tauchnitz-Straße seine Fortsetzung in einem Anlagenwege neben der verlängerten Marschnerstraße, einbiegend in den früheren Johannaparkfahrweg, und weiter in der Bismarckstraße – Nonne oder Fluthrinnenstraße – Rennbahn finden soll. Dem sich immer mehr entwickelnden Fahrradverkehr soll entsprechende Beachtung geschenkt und ihm, wo es angänglich ist, eigene Wege angewiesen werden. Es ist angenommen, daß der Radverkehr von der Weststraße aus durch den Johannapark, weiter von der Marschnerstraße aus neben dem Reitwege (früherem Johannaparkfahrwege), ferner mit kurzer Berührung der König-Albert-Allee neben der Fluthrinnenstraße und von dieser abbiegend über eine kleine Uebungs- oder Sammelbahn zur Nonne geführt wird. Die Kosten der Fahrradwege sind auf 3620 Mark bereits in den Haushaltplan auf das Jahr 1899 eingestellt worden. Was die Jugendspiele anbelangt, so konnten bei dem bedeutenden Umfange des Parkes zu diesem Zwecke entsprechend große Plätze angewiesen werden. Es ist diesseits der Fluthrinne für kleinere Kinder zum Spielen in Erde und Sand ein Platz von 2475 Quadratmeter und für größere Kinder ein Rahmspielplatz von 6760 Quadratmeter Größe angenommen. Beide Spielplätze würden durch anzupflanzende Hecken ihren Abschluß erhalten. Jenseits der Fluthrinne können die Wiesen zu beiden Seiten der König-Albert-Allee zu Fußballspielen benutzt werden und am Waldessaume der Nonne sind Lawn-Tennis-Plätze vorgesehen, von denen auch einige eventuell unterhalb der Bismarckstraße angeordnet werden könnten. In … Weiterlesen

Aus der Presse – Die Idee eines großen Stadtparks im Zentrum

Schon vor mehr als fünf Jahren, nämlich im October 1893, hatte der Rath den Stadtverordneten eine Vorlage zugehen lassen, welche die Ausgestaltung der Wiesen zwischen dem Scheibenholze und der Bismarckstraße als Parkanlage bezweckte. Die Stadtverordneten stimmten diesem Plane in ihrer vom 13. December 1893 zu, jedoch unter zwei Bedingungen. Sie wollten nämlich 1) auf die Herstellung einer Fahrstraße auf der Fluthrinne (als Anfang einer Verbindung des Westens mit dem Süden der Stadt) und auf die hiermit im Zusammenhange stehende Einziehung des Scheibenholzfahrweges nicht eingehen, und beantragten 2) daß weder dem Stammvermögen noch dem Betriebe wegen der Herstellung des Parkes Mittel angesonnen werden, sondern daß dieselbe lediglich aus den Mitteln der Grassi-Stiftung mit dem vom Rathe vorgeschlagenen Berechnungsgelde von 200 000 Mark erfolge. Der Rath faßte damals bei diesen Beschlüssen zunächst Beruhigung; die in Angriff genommene Ausführung der Parkanlage ist dann aber mit Rücksicht auf die Vorbereitungen zur Sächsisch-Thüringischen Industrie- und Gewerbe-Ausstellung, welche in der Hauptsache das in Rede stehende Areal einnahm, unterbrochen worden. Der Ausstellungsleitung ist hierauf von den städtischen Collegien ein Betrag von 80 000 Mark zur Herstellung von Anlagen auf dem bezeichneten Areale unter der Bedingung verwilligt worden, daß sie diese Anlagen möglichst im Anschluß an das städtische Parkproject ausführe und dieselben später der Stadtgemeinde zu überlassen habe. Diese 80 000 Mark nun, für welche der Stadt die König-Albert-Allee und die beiden Teiche als sicherlich vollwerthige Gegenleistung von der Ausstellung überlassen wurden, sind aus dem vorerwähnten Berechnungsgelde von 20 000 Mark gedeckt worden. Da außerdem 23 000 Mark für die Anlagen am Rosenthalberge aus obiger Summe zur Zahlung angewiesen und bereits vor der Ausstellung 42 000 Mark für die Arbeiten zur Herstellung des Parkes ausgegeben worden sind, so hat sich die für die Parkanlage noch verfügbare Summe auf 55 000 Mark erniedrigt, aus denen die Kosten derjenigen Arbeiten, die zur Zeit auf dem Areale an der Marschnerstraße (in einstweiliger Ausführung eines Theiles des Planes) ihren Fortgang nehmen, bestritten werden. Mit den noch verfügbaren Mitteln wird sich also die Parkanlage sicherlich nicht im Entferntesten mehr herstellen lassen. Dazu kommt, daß nach der stellenweise beträchtlichen Auffüllung des Areals die Einführung der Wasserleitung behufs künstlicher Bewässerung erforderlich wird, während hierauf bei der früheren tiefen Lage des Areals infolge genügender natürlicher Feuchtigkeit verzichtet werden konnte. Im Verlauf der Verhandlungen ist sodann der Rath auf seinen früheren Gedanken wieder zurückgekommen: eine Fahrstraße an der Fluthrinne zu schaffen und den Scheibenholzfahrweg einzuziehen. Diese neue Fahrstraße soll, wie schon erwähnt, den Anfang zu einer Verbindung zwischen den westlichen Vororten und der Südvorstadt (Kronprinzenstraße) bilden. Anderntheils wird durch Einziehung des Scheibenholzfahrweges erreicht, daß der König-Albert-Park von allem Fahrverkehr – außer dem auf der König-Albert-Allee – frei bleibt, denn auch der Fahrverkehr auf dem früheren Johannaparkwege zwischen der Marschnerstraße und der Fluthrinne soll nicht weiter bestehen bleiben. (Dieser Theil des Johannaparkfahrweges ging bekanntlich fast unmittelbar neben der Bismarckstraße hin und hatte für den Fahrverkehr kaum ein Zweck.) Auf dieser Grundlage ist nun der städtischen Gartenverwaltung vom Rathe der Auftrag zu Theil geworden, ein neues Project über die Parkanlage auszuarbeiten. Das ist es, welches jetzt den Stadtverordneten vorliegt. Was zunächst die finanzielle Gestaltung des neuen Projects betrifft, so ist dieselbe folgende: 1) Kosten der Beschleußung und Macadamisirung der König-Albert-Allee 75 510 Mark2) Herstellung einer Fahrstraße von der Plagwitzer Brücke (bez. Bismarckstraße) bis zum Kettensteg 30 040 Mark3) Herstellung von Straßenböschungen, Anpflanzung von Alleebäumen ec. 71 280 Mark4) Kosten der Parkanlage, einschließlich Einführung der Wasserleitung 293 472 MarkZusammen: 470 302 Mark. Von den Gesammtkosten würde der Aufwand unter 1-3 (Straßenherstellungen im öffentlichen Interesse) auf das Stammvermögen zu übernehmen, der Aufwand für die Parkanlage aber aus dem Betriebe Conto 12 „Anlagen“ zu bestreiten und zu dem Zwecke jährlich 60 000 Mark in dieses Conto einzustellen sein. Die Einstellung der ersten Rate ist bereits im Haushaltsplan auf das Jahr 1899 erfolgt. „Die Kosten sind zwar – so sagt der Rath am Schlusse seines Begleitschreibens – nicht unbeträchtlich, aber wir gehen wohl in der Annahme nicht fehl, daß sich die Herren Stadtverordneten bei den am 13. December 1893 aufgestellten Bedingungen hauptsächlich durch die Rücksicht auf die östlichen Stadttheile haben leiten lassen. Nachdem für letztere unter Aufwendung erheblicher Mittel umfangreiche Anlagen geschaffen worden sind, glauben wir auf Ihre Zustimmung rechnen zu dürfen, daß die von der Natur im Südwesten gegebenen günstigen Bedingungen benutzt werden, um die schöne, aber für einen starken Verkehr doch noch kleine Anlage des Johannparks zu erweitern zu einem großen Stadtparke, der einen Anziehungspunct und eine Erholungsstätte für die gesammte Bevölkerung Leipzigs, nicht weniger aber für den Fremdenverkehr eine Sehenswürdigkeit bilden wird. Der Zustand, in welchem sich das betreffende Areal seit Schluß der Ausstellung befindet, kann unmöglich so belassen werden. Wenn man aber an die Abänderung desselben geht, dann erscheint es auch am wirthschaftlichsten, sie gleich planmäßig und so auszuführen, daß etwas Dauerndes, Schönes geschaffen wird.“ Wir glauben, daß man dem hier dargelegten Standpuncte in den weitesten Kreisen unserer Bürgerschaft Beifall geben wird und zwar das um so mehr, da jetzt nach dem Osten auch der Norden eine umfängliche Parkanlage erhalten soll. Ebenso sind am Napoleonsteine Anlagen geplant, und da der Süden und der Nordwesten durch die Natur reich bedacht sind, so kann das Project einer Parkanlage auf dem ehemaligen Ausstellungsgelände nirgends das Gefühl aufkommen lassen, daß hiermit die einseitige Bevorzugung eines Stadttheiles stattfindet. Durch den künftigen König-Albert-Park wird aber Leipzig eine Parkanlage erhalten, wie eine solche nur selten eine Großstadt aufzuweisen haben dürfte. Der König-Albert-Park wird nämlich den Johannapark mit dem Scheibenholz verbinden und da die Einbeziehung des Wiesendreiecks jenseits der Fluthrinne (wo das Hauptausstellungsgebäude stand) in die Parkanlage geplant ist, zugleich auch eine Verbindung mit der „Nonne“ herstellen, an welche sich der Ausläufer des Connewitzer Holzes (der sog. Beipert) anschließt. Man wird dann also vom südwestlichen Promenadenringe aus stundenlange Spaziergänge in Anlagen oder Wäldern wandelnd, ausführen können. Soviel für heute. Die Beschreibung der Anlagen im König-Albert-Park soll im nächsten Artikel folgen. Der künftige König-Albert-Park I., in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger. Frühausgabe vom 13. Januar 1899, S. 314.

Gespräch mit Experten – Joana Brauhardt zur Insel Buen Retiro

Joana Brauhardt ist eine passionierte Kunsthistorikerin, deren akademischer Werdegang sich an der Schnittstelle von Kunst- und Gartengeschichte sowie der Museumsarbeit bewegt. Im Rahmen eines Forschungsprojekts ihrer Hochschule beschäftigte sie sich intensiv mit der Geschichte einer Leipziger Insel im 19. Jahrhundert, die unter dem Namen Buen Retiro bzw. Schimmels Gut bestens bekannt war. In ihrem Fachbeitrag beleuchtet sie die Ursprünge und die stadtgeschichtliche Relevanz dieses Ortes, seiner Beschaffenheit und Eigentümer sowie die Freizeitaktivitäten und zeigt auf, wie die urbane Entwicklung der Stadt zur Aufgabe dieses beliebten Areals beigetragen hat. Frau Brauhardt, Sie haben sich mit einem besonderen Thema beschäftigt. Die Leipziger Gartenkultur bietet eine Menge spannender Geschichten und Entdeckungen. Was hat Sie motiviert, gerade dieses Thema auszuwählen? Mit den Leipziger Gärten und der Insel Buen Retiro habe ich mich während meines Kunstgeschichtsstudiums beschäftigt. Anlass war ein Projektmodul, in dem wir über die verschiedenen Leipziger Gärten und Ausflugsziele zu jener Zeit forschten. Die spannenden Ergebnisse, die wir dabei entdeckten, wurden erfreulicherweise in einem schönen bebilderten Buch mit hoher Druckqualität 2019 veröffentlicht. Als Kind wollte ich schon immer Detektivin werden, nun bin ich leidenschaftliche Kunsthistorikerin, was diesem Wunsch sehr nahekommt. Könnten Sie uns zunächst erklären, was der Buen Retiro war und welche Bedeutung dieser Ort im 19. Jahrhundert für die Bewohner von Leipzig hatte? Der Buen Retiro befand sich inmitten des Schimmelschen Guts und war im 19. Jahrhundert ein beliebtes Ausflugsziel. Das riesige Areal zog sich zwischen der heutigen Beethoven- bis zur Paul-Gruner Straße und war bis zu 100 Acker groß. Es war eine Insel, die in eine Gartenanlage mit mehreren Teichen integriert war, auf denen man beispielsweise Boot fahren konnte. Sie war entweder mit einem Kahn oder über eine Brücke erreichbar. Auf ihr gab es Gastwirtschaften wie ein Fischrestaurant und später eine Kegelbahn. Es wurden Veranstaltungen, etwa Konzerte, angeboten und im Winter war Schlittschuhlaufen der letzte Schrei. Die später bewusst verwilderte Anlage war außerdem ein Geheimtipp für Frischverliebte gewesen. Die Bezeichnung Buen Retiro hat einen spanischen Ursprung und bedeutet „Guter Rückzugsort“. Warum wurde dieser Name für die Insel in Leipzig gewählt und wie können wir uns diese vorstellen? Es ist in der Tat überraschend, dass sich ein solcher Ort in Leipzig finden lässt. Der Buen Retiro war ursprünglich ein Park in Madrid, der sich im Laufe der Zeit als beliebter Volkspark für alle sozialen Schichten entwickelte. Dort gab es ebenso Gastwirtschaften, Kunstausstellungen, Teiche zum Bootfahren und ein Tanzlokal. Es gibt allerdings keine nachweisbaren Bezüge zwischen ihm und Leipzig, sodass man davon ausgehen sollte, dass der spanische Name eher eine geschickte Marketing Strategie gewesen sein könnte. Die Geschichte des Ortes ist eng mit den verschiedenen Eigentümern verbunden. Könnten Sie uns mehr über die Entwicklung des Ortes berichten? Das Areal war im Besitz von unterschiedlichen Familien und läuft daher unter mindestens vier verschiedenen Namen. Seit dem 16. Jahrhundert betrieben dort geschäftige Nonnen einige Fischteiche, eine Mühle und ein Vorwerk. Im 18. Jahrhundert befand es sich im Besitz der Kaufmannsfamilie Frege (deren Nachfolger der Sänger Campino ist), die es von dem Universitätsrektor Johann Christian Schamberg erwarben. Christian Gottlob Frege vererbte das Grundstück interessanterweise nicht an den ältesten Sohn, sondern an seine Tochter Christiane Eleonore, verheiratete Krumbhaar. Das war zu dieser Zeit mehr als unüblich, doch bei den Freges gängig. 1788 verkaufte sie bzw. ihr Ehemann das Grundstück. Es wechselte in der Folgezeit mehrmals den Besitzer, 1823 ging es an Friedrich Wilhelm Schimmel über, 1857 an Friedrich August Voigt, einem Konkurrenten Karl Heines, bevor es in den 1880er Jahren endgültig überbaut wurde. Das Gut musste schlussendlich dem Druck der wachsenden Stadt und dem steigenden Bedarf an Wohnraum weichen. Übrigens, während der Völkerschlacht war dort ein französisches Lazarett stationiert. Das Gut ist folglich eng mit der Stadtgeschichte verwoben. Es war ein großes Gebiet, das durch den Pleißemühlgraben in zwei Bereiche unterteilt und nur über drei Brücken zugänglich war. Im Oberen befand sich ein Lust- und Kuchengarten, der im französischen Stil angelegt war, im unteren Teil gab es vier Fischteiche. Später wurden zwei von ihnen zusammengelegt und eine Insel aufgeschüttet. So entwickelte sich der Ort im Laufe der Zeit zu einem der beliebtesten Ausflugsziele Leipzigs. Obwohl es ein wichtiger Ort für die lokale Geschichte ist, finden sich heute keinerlei Spuren mehr davon im Stadtraum. Eigentlich schade. Ein Unglücksfall im Jahr 1842, bei dem der Holzsteg zusammenbrach, hatte für Aufsehen gesorgt. Haben Sie über dieses Ereignis etwas herausfinden können? Der Unfall ereignete sich nach einem Konzert. Die Gäste drängelten sich auf dem Steg, um das anschließende Feuerwerk anzuschauen. Die Konstruktion hielt das Gewicht der Massen leider nicht mehr aus und brach ein. Zum Glück gab es keine schwerwiegenden Verletzungen, jedenfalls habe ich keine Berichte dazu gefunden. Zum Abschluss gestatten Sie die Frage, inwieweit hat diese Arbeit Ihre Sicht auf die Gartenkultur und die historische Entwicklung Leipzigs beeinflusst? Für mich war die Recherche zum Schimmelschen Gut eine spannende Auseinandersetzung mit der Leipziger Stadtgeschichte und der urbanen Entwicklung der Stadt in der ich lebe. Die Erforschung des Themas war ein spannendes Projekt, in dem ich tief in die Archive und zeitgenössische Berichte eintauchen musste. Auch fachlich hat es mich weitergebracht. Erstmals konnte ich alle Fertigkeiten, die das Studium im Institut für Kunstgeschichte an der Universität in Leipzig mir vermittelt hatte, anwenden. Mehr erfahren Sie in dem schönen Buch, das auch in der Bibliothek zu finden ist. © 2024 is licensed under CC BY-NC-SA 4.0 Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen

Aus der Presse – Der Koltersche Drahtseilakt auf Buen Retiro

Der Ruf des Herrn Kolter als Akrobat ging einst über die Grenzen Deutschlands hinaus. Seine Kunst hat er auf seine drei Schwiegersöhne Weitzmann, Beisar und Malmerström übertragen, und mit den beiden Letzteren und Familie besucht er diesmal unsere Messe, um Vorstellungen auf der Insel Buen Retiro zu geben, die aber leider der ungünstigen Witterung wegen öfters unterbleiben mußten, obgleich derselbe alles aufgeboten hat, seine Vorstellungen sehr interessant zu machen. Die große Ascension auf einem 300 Ellen langen Thurmseile, welches stets so sehr und mit Recht bewundert wurde, läßt er jetzt z. B., um dieser Production einen neuen Reiz zu geben, über dem Wasser des großen Teiches auszuführen, und so giebt er uns ein Bild von jenem Wagstück, welches in Amerika Blondin ausführte, der bekanntlich über den Niagarafall ging; — wenn es nun auch nicht so gefährlich und haarsträubend erscheint, wird es dadurch schwierig und gefahrvoll genug gemacht, daß Beisar und Malmerström beide zugleich das Seil betreten, der Eine von oben herab, der Andere von unten hinauf kommt, und da, wo beide einander treffen, der Eine über den andern hinwegspringen muß, um dann auf dem Seile weiter fortschreiten zu können. Außer diesem Hauptstück führen Beide und ihre Familie auf dem gespannten Seile noch viele andere bewundernswerthe Stücke aus, und auch noch eine Menge von anderen equilibristischen Künsten bekommt man zu sehen, so daß es an reicher Abwechslung nicht fehlt. Das Entrée ist sehr billig gestellt. Die Vorstellungen der Kolter’schen Gesellschaft auf der Insel Buen Retiro in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 6. Mai 1863, S. 2590.

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