Im Begleitprogramm der Palmengarten-Ausstellung fand im Festsaal des Alten Rathaus Leipzig die erste öffentliche Veranstaltung statt. Der Abend war der schwedischen Komponistin Elfrida Andrée (1841-1929) gewidmet, die im Januar 1905 im Leipziger Palmengarten ein Orchesterkonzert mit ihren eigenen Werken dirigierte. Eröffnet wurde die Veranstaltung durch die Grußredner Anne Roßburger (HTWK Leipzig) und Eric Buchmann (Vorsitzender der Hieronymus-Lotter-Gesellschaft). Die Veranstaltung war inhaltlich in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil hielt Mary Ellen Kitchens (Archiv Frau und Musik) einen Vortrag über das Leben und Werk der schwedischen Komponistin. Im zweiten Teil folgte eine Podiumsdiskussion mit ihr und Kerstin Sieblist (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig). Durch den Abend führte Eva Meitner, die moderierte und zwischendurch auch selbst am Klavier Werke der Komponistinnen Elfrida Andrée, Amy Beach (1867-1944) und Ethel Smyth (1858-1944) spielte.
Kurzinformation zur Referentin Mary Ellen Kitchens
Von 1994 bis 1998 war Mary Ellen Kitchens Vorstandsfrau bei musica femina münchen. Seit 2013 ist sie Vorstandsfrau des Archivs Frau und Musik in Frankfurt am Main, dem weltweit größten und bedeutendsten Archiv dieser Art. Aufgrund ihrer regen Konzerttätigkeit mit ihren Ensembles (Frauenorchesterprojekt Berlin, Orchesterverein Kempten, Munich International Choral Society, Rainbow Sound Orchestra Munich, Regenbogenchor München) ist sie zudem auch selbst als Dirigentin aktiv und leitet häufig Aufführungen mit Werken von Komponistinnen, darunter auch Elfrida Andrée.
Mary Ellen Kitchens verbindet auf diese Weise tiefgründiges Fachwissen mit gelebter Konzertpraxis.
Archiv Frau und Musik (AFM)
Das Archiv wird 2029 sein 50-jähriges Jubiläum feiern und ist das weltweit größte Archiv dieser Art. Der Fokus liegt auf Komponistinnen, Dirigentinnen, sowie in der Musikwelt agierende Frauen. Zudem ist das Archiv beratend für Musizierende, Ensembles und Verlage tätig, wenn nach Programmideen oder Informationen zu Komponistinnen und ihren Werken gesucht wird. Besonderer Wert wird auf Vernetzung gelegt, sowohl zwischen Komponistinnen als auch zwischen Aufführenden. Eine enge Zusammenarbeit besteht mit dem Digitalen Deutschen Frauenarchiv (https://digitales-deutsches-frauenarchiv.de), da die Digitalisierung und Online-Präsentation von Medien eine zentrale Rolle im Archiv einnehmen. www.archiv-frau-musik.de
Das Referat über Elfrida Andrée (von Mary Ellen Kitchens)
Elfrida Andrée (1841-1929) war eine außergewöhnlich vielseitige Frau, deren facettenreiche Persönlichkeit sich auch in ihrem Kompositionsstil widerspiegelt. Sie wirkte als Organistin, Komponistin, Telegraphistin und Harfenistin. Besonders bemerkenswert ist ihre Behandlung der Harfe in ihren Orchesterwerken, zweifellos zurückzuführen auf ihre eigenen virtuosen Fertigkeiten an diesem Instrument. Ihr Hauptinstrument war jedoch die Orgel: Für 62 Jahre war sie Domorganistin in Göteburg, eine bemerkenswert lange Zeit in dieser Position.
Den entscheidenden Rückhalt erhielt sie von ihrem Vater, der ihre Ausbildung zur Telegraphistin und Organistin unterstützte. Da Frauen in diesen Berufen damals nicht tätig sein durften, mussten schwedische Gesetze geändert werden, um ihre eigene Berufsausübung zu ermöglichen. So wurde Andrée die erste Frau, die den Beruf der Telegraphistin ergreifen durfte und ging als erste Domorganistin in die Geschichte Schwedens ein. Sie komponierte zahlreiche Werke für Klavier und Orgel sowie Kammermusik, Chormusik und Orchesterwerke. Ihr erstes Orchesterwerk, die Ouvertüre in g-Moll, schrieb sie im Alter von 23 Jahren. Im Laufe ihres Lebens vertiefte sie ihr Interesse am Orchesterklang, vermutlich hat sie dies als Potenzierung des Orgelklanges erlebt. In ihrem Tagebuch taucht der bemerkenswerte und von ihr unterstrichene Satz auf:
„Das Orchester ist das Ziel!“
Elfrida Andrée war die erste Frau in Schweden, die Sinfonien schrieb. Doch ihre Aufführungen waren oft von Widerständen begleitet. So ist überliefert, dass Musiker eines Orchesters bewusst ihre Partitur sabotierten, indem die ersten Geigen absichtlich einen Takt zu spät einsetzten. Dadurch entstanden unintendierte Missklänge, die sich natürlich negativ auf die Rezeption des Werks ausgewirkt haben. Andrée und ihre Schwester verließen das Konzert aus Protest. Sie ließ sich aber nicht beirren und setzte ihre Studien in Bezug auf Orchesterkomposition in Kopenhagen bei Niels Gade fort. Sie entschied sich bewusst gegen eine Heirat, was zu dieser Zeit für eine Frau ein mutiger Schritt war.
1905 wurde in Leipzig ihre 2. Sinfonie in a-Moll aufgeführt, die zehn Jahre nach ihrer ersten Sinfonie entstanden war. Da es zunächst keinerlei Aufführungsmöglichkeiten gab, musste sie 14 Jahre bis zur Uraufführung dieser Sinfonie (1893) warten. Obwohl das Werk sehr erfolgreich war, durfte sie als Komponistin nicht auf die Bühne treten, um den Applaus entgegenzunehmen. In ihrem Leben gab es zahlreiche Situationen wie diese, in denen sie nicht die Würdigung erhalten hatte, die ihr eigentlich zustand.
Im gleichen Jahr der Uraufführung ihrer 2. Sinfonie fand die Weltausstellung in Chicago statt. Dort gab es eine Ausstellung zu Werken schwedischer Komponistinnen und ihre Freundin, die Komponistin Laura Netzel nahm unter anderem auch Werke Elfrida Andrées mit auf ihre Reise. Auf diese Weise wurde sie das erste Mal international wahrgenommen. Mitte der 1890er Jahre schrieb sie ihre Oper „Fritjofs Saga“ für die Teilnahme an einen Wettbewerb. Es wird vermutet, dass ihre Teilnahme nicht ernst genommen wurde, weshalb die Oper keinen Preis erhielt. Später überarbeitete sie die Ouvertüre und Zwischenspiele der Oper zur „Fritjof Suite“, das bis heute am häufigsten aufgeführte Orchesterwerk aus ihrer Feder.
Eventuell gab es schon vor dem Konzert im Palmengarten Kontakte nach Leipzig, dies gilt es allerdings noch weiter zu erforschen. Ihre Schwester absolvierte in der sächsischen Musikstadt eine vierjährige Ausbildung als Opernsängerin, weshalb ein früherer Besuch nicht ausgeschlossen werden kann. Es könnte durchaus sein, dass sie schon vor ihrer Palmengarten Aufführung in Leipzig gewesen war. Ebenfalls ist überliefert, dass Andrée zuvor als Organistin für ein Konzert in der Thomaskirche vorgesehen war, dass kurzfristig abgesagt wurde, da eine Frau an der Orgel der damaligen „Sitte“ nicht entsprochen hatte.
Ende 1904 finden sich historisch belegte Kontakte nach Sachsen. Zunächst über eine Einladung nach Dresden vom dortigen Kapellmeister, um dort im Konzert ihre eigenen Werke zu dirigieren. Zwei Monate später dirigierte sie dann im Januar 1905 ihr Fritjof-Vorspiel und die 2. Sinfonie im Leipziger Palmengarten. Wo genau sie die Zeit zwischen diesen beiden Auftritten verbracht hatte, ist zwar nicht bekannt, aber vermutlich ist sie die Zeit über in der Nähe der sächsischen Auftrittsorte geblieben. Eine detaillierte Auswertung ihrer Briefe könnte hier genauere Hinweise liefern.

Die Rezensionen der Presse
Die Leipziger Presse reagierte kritisch auf ihr Konzert. Besonders im Leipziger Tageblatt wurde nicht nur ihr Werk abgewertet, sondern grundsätzlich hinterfragt, ob Frauen überhaupt komponieren können. Während die Fritjof-Ouvertüre noch vergleichsweise positiv besprochen wurde, wurde ihre Sinfonie aufgrund mangelnder Qualität gänzlich abgelehnt. Eine genauere Untersuchung des anonymen Kritikers „L. W.“, seiner weiteren Rezensionen und seines generellen Schreibstils könnte hier interessante Erkenntnisse liefern.
Andernorts feierte Elfrida Andrée mit ihrer 2. Sinfonie nämlich durchaus größere Erfolge, so zum Beispiel in Göteburg selbst, wo das Werk aufgeführt wurde, und in Brüssel, wo es bei einem Wettbewerb einen Preis erhielt. In den handschriflichen Orchesterstimmen wurden zur damaligen Zeit gerne Kommentare hinterlassen, die Informationen über Orte, Ausführende oder das Werk selbst enthielten. In der Stimme der zweiten Flöte findet sich der Kommentar:
„Mit großem Erfolg am 11. November 1904 in Dresden Gewerbehaus aufgeführt. Alle Hochachtung der Meisterin.“
Im Gegensatz zur Leipziger Kritik war die Dresdner Presse durchweg positiv.
Engagement für Frauenrechte
Neben ihrer kompositorischen Arbeit setzte sich Andrée aktiv für Frauenrechte ein. Für eine Frauenwahlrechts-Konferenz 1911 in Stockholm komponierte sie eigens eine „Wahlrechts-Kantate“, die bislang weder verlegt noch eingespielt wurde – ein weiterer Bereich, in dem Forschungs- und Handlungsbedarf besteht. Ähnliche Bewegungen für das Frauenwahlrecht wurden auch in anderen Ländern musikalisch begleitet, etwa durch Ethel Smyth in Großbritannien mit ihrem berühmten „March of the Women“ oder die Komponistin Amy Beach in den USA.
Interessant wäre in diesem Zusammenhang auch eine nähere Betrachtung von Andrées jahrzehntelang durchgeführten Konzertreihe mit „Volkskonzerten“, die sie zusammen mit ihrer Nichte, der Chorleiterin Elsa Stenhammar, in Göteburg veranstaltete. Fragen von besonderer Bedeutung wären: An welches Publikum richteten sich diese Konzerte? Welche Programme erklangen? Wie wurde die Werkauswahl kuratiert?
Erkenntnisse der Podiumsdiskussion
Nach ihrem Tod 1929 geriet Andrée in Vergessenheit. Viele ihrer Werke wurden nicht verlegt und sind bis heute unveröffentlicht. Glücklicherweise sind ihre Autographe erhalten und archiviert. Generell gibt es zur Person selbst und zu ihrem Gesamtwerk noch viel Forschungsbedarf, unter anderem mangelt es an einer deutschsprachigen Biografie, ihre Briefe sind noch nicht gänzlich erschlossen, und zahlreiche Quellen noch nicht gesichtet.
Die Kritik zur Leipziger Aufführung von Andrées Werken im Palmengarten war sehr misogyn. Besonders auffallend ist, dass der Rezensent sie als eine „junge Komponistin“ bezeichnete – dabei war sie zum Zeitpunkt des Konzerts bereits 64 Jahre alt! Daraus folgt sogar die Frage, ob der Autor das Konzert überhaupt besucht hatte, denn ihre Stücke hatte sie schließlich selbst dirigiert, und ihr ungefähres Alter war eigentlich zu erkennen.
In der Musikgeschichte erlangten Frauen oft nur dann Ruhm, wenn sie Männer unterstützten oder in privaten Salons musikalische Netzwerke pflegten, wie etwa die Sängerin Livia Frege, die in Leipzig Musikern und Komponisten eine wichtige Bühne bot. Im Gegensatz dazu wurde Frauen das Schöpferische häufig abgesprochen, während man ihnen lediglich die Reproduktion musikalischer Werke zugestand. Fanny Hensel wäre hier zu nennen, und selbst Clara Schumann hat mit ihrem Mann mit dieser gesellschaftlichen Haltung gerungen. Im Alten Rathaus kann man dazu in der Dauerausstellung vom Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig mehr erfahren.
Vor diesem Hintergrund ist dem Kritiker immerhin zugutezuhalten, dass er das Werk Elfrida Andrées analysiert und zumindest versuchte, sich auf eine sachliche, inhaltliche Ebene zu begeben und qualitative Argumente vorzubringen. Spannend wäre eine genauere Untersuchung der damaligen Konzertprogramme des Gewandhausorchesters und des Winderstein-Orchesters, wie häufig wurden Werke von Komponistinnen in jener Zeit überhaupt gespielt? Gibt es weitere Beispiele der Rezeption solcher Konzertereignisse?
Die Fritjof-Ouvertüre beeindruckt durch ihren sehr besonderen Klang: Mit einem heroischen Anfang, der gezielten Einbindung der Harfe, die sich in der Behandlung stilistisch von vergleichbaren Werken abhebt, sowie dem lyrischen Schluss. Möglichweise ein Ausdruck ihrer Vorstellung von „Orgelfülle“ in einem sehr weichen und runden orchestralen Gesamtklang.
Die schlechte Quellenlage zu Frauen in der Musikgeschichte erschwert die Forschung erheblich. So hat zum Beispiel eine Ausstellung im Bach-Museum 2024 gezeigt, dass es kaum direkte Quellen zum Leben der Bach-Frauen gibt, selbst wenn sie musikalisch außerordentlich talentierte Sängerinnen waren. Gerade dann ist der Kontakt zu Archiven und Bibliotheken besonders wichtig, da diese mit dem vertieften Nachforschen unterstützen können. Eine besondere Rolle bei der Entstehung von Themenschwerpunkten und Ausstellungen spielen dabei natürlich Jubiläen.
Vielleicht wissen wir bis zu Elfrida Andrées 100. Todestag 2029 mehr über ihre Zeit in Leipzig – und vielleicht erklingt bis dahin auch mehr von ihrer Musik in Konzertsälen und Kirchen.
Der Text entstand in Abstimmung mit Mary Ellen Kitchens (Archiv Frau & Musik) und Kerstin Sieblist (Stadtgeschichtliches Museum Leipzig).
Siehe auch – Schwedische Pionierin Elfrida Andrée im Palmengarten – Dirigentin
Siehe auch – Leipziger Palmengarten – Ausstellung und Begleitprogramm 2024/25
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