Aus der Presse – Palmengarten-Katastrophe im Gesellschaftshaus

Leipzig, 15. October 1901. — Das Gesellschafts-Concert im Palmengarten am heutigen Nachmittage erfuhr eine recht betrübende Unterbrechung dadurch, daß im zweiten Theile, kurz vor dem angekündigten Auftreten einer Sängerin, von der Wand nach dem Palmenhause zu ein etwa 3 Meter langes Stück Stuck des Deckensimses herabfiel, mehrere darunter stehende Tische mit Gypsstücken überschüttete, die auf den Tischen befindlichen Geschirre zum Theil zerschlug und drei Damen, die an diesen Tischen Platz genommen hatten, verletzte. Das Concert wurde abgebrochen. Die Besucher verließen sofort den Saal, da sich ergeben hatte, daß ein zwanzigjähriges Mädchen aus Stettin tödlich verunglückt war, anscheinend infolge des Schreckes, da eine äußere Verletzung an der Todten bei vorläufiger Besichtigung durch eingetroffene Aerzte nicht constatirt werden konnte. Eine der Damen hatte einen Beinbruch erlitten und konnte erst später in ihre Behausung gebracht werden, während zwei anscheinend leichter verletzte Damen sich entfernt hatten. Nachdem der Saal geräumt worden war, konnten die polizeilichen Erörterungen sofort beginnen, und wurde auch die verstorbene junge Dame mittels Siechkorbes fortgebracht. Selbstverständlich können in dem großen Saale des Palmengartens bis auf Weiteres gesellige Veranstaltungen nicht abgehalten werden. [1]

Leipzig, 16. October 1901. — Mit inniger Theilnahme hat heute unsere Bewohnerschaft die schmerzliche Kunde von dem bedauernswerthen Schicksal einer jungen Dame vernommen, die gestern Abend das Opfer eines noch unaufgeklärten Unglücksfalles im Leipziger Palmengarten geworden und in Folge des Herabstürzens einer Stuckdekoration in wenig Minuten ihr junges Leben aushauchen mußte, während eine dicht neben ihr sitzende zweite Dame durch die Katastrophe den Bruch des linken Oberschenkels zu beklagen hatte. Das III. Gesellschaftsconcert im Leipziger Palmengarten, das, vom Günther Coblenz-Orchester ausgeführt, gestern Nachmittag 4 Uhr begann, hatte eine außergewöhnlich starke Zuhörerschaft, darunter, wie dies stets der Fall zu sein pflegt, viele Damen, nach den Räumen des großen Gesellschaftshauses gezogen, so daß bei Beginn der musikalischen Aufführung, zu welcher gleichzeitig die Mitwirkung der Sängerin Fräulein Leontine Kiesling vom Leipziger Stadttheater in Aussicht genommen war, alle Säle, sowie die Gallerien dicht besetzt sich erwiesen. Man schätzte die Besucherzahl auf etwa 1200 Personen. Es mochte etwa gegen ¾ 6 Uhr sein, – das Orchester hatte eben Weber’s „Aufforderung zum Tanz“ unter stürmischem Applaus des Auditoriums gespielt und Fräulein Kiesling schickte sich an, die Juwelen-Arie aus „Margarethe“ zu singen –, als in dieser Pause sich plötzlich ein etwa 3 m langes Stück der aus Stuck bestehenden Unterplatte des Deckengesimses vom Plasond löste und in mächtigen Stücken rapid 15 m herab in den Concertsaal sauste, mitten in eine Gruppe von Damen hinein, zwei von ihnen schwer verletzend, sowie Tischplatten und Eßgeräth zerschmetternd. Das geschah in wenig Secunden. Ueber den Umfang der Katastrophe selbst hatten bei dem Eintreten des Unglücksfalles die übrigen Anwesenden keine rechte Vorstellung, erst als nach einem gewaltigen Krach eine dichte Staubwolke an der Unglücksstelle aufwirbelte, als man die schwer Verletzten aus dem Saale trug, erkannte man ihre Größe. Der im Saal anwesende Director des Leipziger Palmengartens, Herr H. Miederer, welcher sofort vom Orchester aus Signal blasen ließ und die bestürzte und aufgeregte Zuschauerschaft zu Ruhe und Besonnenheit ermahnte, leitete unter Assistenz eines Herrn aus dem Publicum rasch die Ueberführung der beiden schwer verletzten Damen nach dem Weinzimmer des Restaurants an, während Herr Direktor Doebner sofort die nöthigen Absperrungsmaßregeln und die Räumung des Saales verfügte. Bewußtlos wurde ein junges blühendes Mädchen von 20 Jahren, Fräulein Frieda Klaus, das einzige Kind des Uhrmachers Klaus in Stettin, das in Leipzig zum Besuche weilte, aus Mund und Nase blutend aus dem Saal nach dem Weinrestaurant getragen. Dort verstarb die junge Dame schon nach wenigen Minuten, so daß der sofort herbeigerufene Arzt Herr Dr. Kloberg nur noch den Tod zu constatiren vermochte. Vermuthlich ist die Beklagenswerthe durch ein herabfallendes schweres Stuckstück im Genick tödtlich verletzt worden. Eine mit ihr gleichfalls an demselben Tische sitzende Dame, Frau Schuldirector Steinkopf aus Leipzig-Gohlis, erlitt oberhalb des Knies einen Bruch des linken Oberschenkels; trotz der großen Schmerzen, die sie auszustehen hatte, war sie doch sehr gefaßt. Sie wurde in Begleitung ihres herbeigerufenen Gatten mittels Krankenwagens nach ihrer Wohnung befördert, während man die Leiche des Fräulein Klaus dem Pathologischen Institut zuführte. Eine dritte Dame kam, zitternd und bebend, mit dem Schreck davon.

Kurz nach der Katastrophe entfernte sich das gesammte Concertpublicum, so daß gegen ½ 8 Uhr bereits alle Säle geräumt waren. Bald nach Bekanntwerden der Katastrophe nahmen die Herren Polizeidirector Bretschneider, Baucommissar Haubold und Criminalcommissar Dr. Fincke die Unglücksstelle in Augenschein, wie auch heute Vormittag Herr Oberstaatsanwalt Böhme, sowie weiter die Herren Baurevisor Striegel, Baurath Johlige, Architekt Schmidt, Zimmermeister Lincke in Begleitung der Directoren Miederer und Doebner zur Besichtigung erschienen. Es wurde zunächst eine eingehende Untersuchung der gesammten Stuckarbeit im Concertsaale angeordnet und zu diesem Zwecke ein fahrbares Gerüst vorbereitet. Ueber die Ursache der Katastrophe selbst läßt sich vorläufig gar kein bestimmtes Urtheil abgeben. Soviel steht aber jetzt schon fest, daß das Eindringen von Feuchtigkeit aus dem neben den Concertsaal befindlichen Palmenhause ganz zur Unmöglichkeit gehört, da ein etwa 3 Meter starkes Mauerwerk die Stuckdecoration von der Palmenhauswand trennt. Die Decoration, seiner Zeit von der renommirten Firma Bosmau & Knauer in solider Weise hergestellt, bildete gleichsam den Abschluß der Kassettendecke und lief oberhalb des Tonnengewölbes über den großen südlichen Glasfenstern vor dem Palmenhause; sie trennte sich dicht neben der Cartouche oberhalb des Gewölbes in einer Länge von circa 3 m und fiel dann mit voller Wucht in mächtigen Stücken herab. Morgen wird die Baubehörde eine erneute Untersuchung des bis auf Weiteres geschlossenen Concertsaales vornehmen. — m. [2]

Leipzig, 17. Oktober 1901. — Die außer dem getödteten Fräulein Frieda Klaus aus Stettin und der Frau Schuldirektor Steinkopf aus L.-Gohlis bei der Katastrophe im Palmengarten verletzte dritte Dame ist die Tochter des Postrathes Wichura, Fräulein Gertrud Wichura. Sie saß mit ihrer Mutter und drei Brüdern mit unter der Stelle, von welcher sich der Stuck abgelöst hat und wurde von einem größeren Stücke so heftig am Hinterkopfe getroffen, daß sie ihrem neben ihr sitzenden Bruder besinnungslos in die Arme fiel. Den Bemühungen ihrer Angehörigen gelang es zwar, die junge Dame bald wieder zur Besinnung zu bringen, die Verletzung erwies sich jedoch bei näherer ärztlicher Untersuchung als eine so schwere, daß der Arzt die Unterbringung der Verletzten im Krankenhaus anordnete. [3]

Leipzig, 26. October 1901. — (Arbeiterbewegung.) Eine gestern im „Mariengarten“ abgehaltene Versammlung der Rabitzputzer, die von 44 Personen besucht war, beschäftigte sich mit der Katastrophe im Palmengarten-Saale. Die Rabitzputzer sind diejenigen Arbeiter, die die Vorarbeiten bei Stuckarbeiten fertigzustellen haben. Die Angriffe der Stuckateure, daß die Rabitzputzer die Schuld an dem Vorkommniß trügen, weil die Arbeit von berufsmäßig nicht ausgebildeten Arbeitern ausgeführt worden sei, wurden zurückgewiesen. Die Redner bemerkten, daß die Rabitzputzer bis zu 12 Jahre im Berufe thätig und daher wohl gründlich ausgebildet seien. Die Firma Boswau & Knauer sei freilich insofern nicht ganz von Schuld freizusprechen, als sie nicht genügend technische Leiter der Arbeiten besessen habe. Auch hätten die Stuckateure zu viel Gyps angebracht, der durch seine Schwere mit zur Herbeiführung der Katastrophe beigetragen habe. Einige in der Versammlung anwesende Stuckateure berichtigten Verschiedenes von dem Vorgebrachten, verwiesen aber im Uebrigen auf ihre heute zu gleichem Zwecke anberaumte Versammlung. Es wurde in der gestrigen Versammlung daher beschlossen, vor weiterer Stellungnahme erst den Verlauf dieser Versammlung abzuwarten. [4]

Leipzig, 27. October 1901. — Die Stuckateure beschäftigten sich in einer gestern im Restaurant „Stadt Hannover“ abgehaltenen, von etwa 100 Personen besuchten Versammlung wieder mit dem Unglücksfall im Palmengarten. Bekanntlich war in der letzten Versammlung der Stuckateure von einzelnen Rednern, die bei den Stuckarbeiten im Palmengarten beschäftigt gewesen sind, gegen diejenige Firma, die den Untergrund zu den Stuckarbeiten hatte herstellen lassen, der Vorwurf erhoben worden, daß diese Arbeiten nicht mit er nöthigen Sorgfalt hergestellt worden seien. Ein Redner hatte unter Anderem behauptet, daß sich schon während des Baues Risse gezeigt hätten, und daß er diese seine Wahrnehmung damals auch bereits anderen Arbeitern mitgetheilt habe. Auf Grund der über diese Versammlung in den Zeitungen erschienenen Berichte hatte die angegriffene Firma an einige derselben Berichtigungen gesandt, worin sie die Anschuldigungen zurückwies. Die gestrige Versammlung hielt nach wie vor die Behauptung aufrecht, daß die Ursache des Unglücks auf Constructionsfehler zurückzuführen sei. Es gelangte eine Resolution zur Annahme, wonach die Versammlung gegen die Schreibweise der in Frage kommenden Firma protestirte und wonach sie die Agitationscommission mit der Widerlegung der in den Berichtigungen enthaltenen einzelnen Puncte beauftragte. Außerdem wurde ein vom städtischen Bauamte an die Gehilfen gerichtetes Schreiben verlesen, wonach dasselbe der Commission eröffnet, daß es nicht in der Lage sei, dem Wunsche der Gehilfen, daß zu der Untersuchung der Sache Stuckateure mit herangezogen werden möchten, nachzukommen, da die nöthigen Feststellungen bereits beendet seien, und daß die weiteren Schritte nunmehr von der Kgl. Staatsanwaltschaft unternommen würden. [5]

Nachdem nunmehr die von der königlichen Staatsanwaltschaft und dem Baupolizeiamte der Stadt Leipzig angeordneten und von den gerichtlichen Sachverständigen und der technischen Abtheilung der städtischen Baupolizei vorgenommenen Untersuchungen des Deckengesimses und der Decke des großen Saales des Gesellschaftshauses abgeschlossen sind, kann mit der Wiederherstellung des Saales begonnen werden. Der Aufsichtsrath des Leipziger Palmengartens hat sich in Folge der behördlichen Anordnungen entschlossen, die ganze Saaldecke einschließlich des Deckengesimses beseitigen und den Saal so wiederherstellen zu lassen, daß den Besuchern des Palmengartens in Zukunft ein vollkommen sicherer Aufenthalt in demselben geboten sein wird. Um jede Gefahr auszuschließen, werden sowohl das Deckengesims, als auch die Saaldecke selbst in solidester Holzconstruction hergestellt und mit starker Leinwand bespannt werden, welche in einer der übrigen Ausstattung des Saales entsprechenden Weise bemalt werden soll. Rabitz- oder Stuckarbeiten irgendwelcher Art gelangen nicht zur Verwendung. Der die erforderlichen Erneuerungsarbeiten leitende Architekt, Herr Max Pommer, hat nach Berathung mit den betheiligten Gewerken die Fertigstellung des Saales bis Weihnachten in Aussicht gestellt. Den Abonnenten ist die Direction in anerkennenswerther Weise insofern entgegengekommen, als sie die Giltigkeit der für das Jahr 1901 entnommenen Dauerkarten bis zum 15. März 1902 verlängert hat und dadurch den Dauerkarteninhabern vollen Ersatz für die ihnen infolge des bedauerlichen Unfalles entgangene Benutzung des großen Saales bietet. Da es unsere Leser zweifellos interessiren wird, Näheres über das Ergebniß der behördlichen Untersuchung des großen Saales und damit über die Gründe zu erfahren, welche die Organe des Leipziger Palmengartens zu den oben erwähnten Maßnahmen bewogen haben, lassen wir die in dieser Angelegenheit erlassenen Verfügungen und Berichte des Baupolizeiamtes hier im Wortlaute folgen:

Leipzig, am 29. Oktober 1901. — Am 26. dfs. Mts. fand auf Veranlassung der königlichen Staatsanwaltschaft eine anderweite Besichtigung im großen Saale des Palmengartens statt, wobei die Herren Dr. Bach, Regierungsbaumeister Töpel und Architekt Vogel und Stuckateur Liegert als Sachverständige fungirten. Außerdem waren hierbei die Vertreter der Firma Boswan & Knauer mit ihren Sachverständigen, Architekt Schmidt, Baurath Johlige, Maurermeister Teichmann, als seinerzeitiger Bauführer, Zimmermeister Linke, beide Palmengartendirectoren Miederer und Doebner, sowie die Unterzeichneten zugegen. Hierüber wird Folgendes berichtet: Zur Besichtigung des Saaldeckengesimses war das in der Auflage vom 20. dfs. Mts. unter Punct 2 geforderte abgebundene Gerüst vorschriftsmäßig von Herrn Zimmermeister Linke aufgestellt worden, von dessen Vollendung das Baupolizei-Bureau am Tage zuvor verständigt wurde.

Auf Anordnung des Baupolizei-Bureaus war im Einverständniß mit der königlichen Staatsanwaltschaft ein 50 cm breiter Einschnitt durch das gesammte 1,10 m hohe und 2,00 m ausladende Saaldeckensimsprofil hergestellt worden, um die Construction bez. die Form des Rabitznetzes prüfen zu können. Hierbei wurde gefunden, daß die aus verschieden starkem Rundeisen und Drahtgeflecht hergestellte Substruction sich den Formen des Simsprofiles nicht anpaßt und zur Erzielung der Glieder Mörtel- und Gipsputz bis zu 18 cm Stärke aufgetragen worden ist. Der Sims ist vielfach in bedenklicher, direkt bedrohlicher Weise gerissen. Ein Herabstürzen weiterer schwerer Stücke ist unvermeidlich und muß deshalb mit möglichster Vorsicht vorgegangen werden. Die Risse laufen um die ganze Saaldecke herum, auch zeigen sich solche in allen vier Saalecken. Ferner sind die vier mittels Draht an den Balken und am Mauerwerk aufgehangenen, ebenfalls aus Gips bestehenden Kartuschen im Scheitel der großen Wandbogen gerissen und haben sich in bedenklicher Weise circa 2-3 cm abgegeben. Aus Constructions- und verkehrssicherheitlichen Gründen muß zunächst die vollständige Beseitigung des Saaldeckengesimses, sowie aller vier Kartuschen gefordert werden. Bezüglich der Construction der Kassettendecke selbst kann zur Zeit ein Bericht noch nicht erstattet, sondern es muß vorerst der Saal vollständig ausgerüstet, sowie der Saaldachfußboden ausgenommen und der Fehlboden gänzlich befestigt werden. Gez.: F. A. Haubold, Baucommissar. P. Bastine, Bauinspector. Striegel, Baurevisor.

Registr.-Nr. Va. 5980. Leipzig, am 31. October 1901 – An die Direction des Palmengartens, hier. Nachdem am 26. dfs. Mts. auf Anordnung der königlichen Staatsanwaltschaft eine eingehende Prüfung und Untersuchung des Zustandes der Decke Ihres großen Concertsaales stattgefunden hat, sehen wir uns nach dem uns vorliegenden Berichte unserer technischen Sachverständigen, von welchem eine Abschrift zur Kenntnißnahme und zugleich an Statt besonderer Eröffnung beifolgt, veranlaßt, Ihnen aus verkehrssicherheitspolizeilichen Gründen hiermit Folgendes aufzugeben in der Erwartung, daß Sie alsbald und in sorgfältigster Weise diesen Anordnungen nachgehen werden.

1) Aus Constructions- und verkehrssicherheitlichen Gründen muß der gesammte, vielfach in bedenklicher Weise gesprungene Saaldeckensims des Gesellschaftshauses, mit Rücksicht aus die dem Simsprofile sich nicht anpassende, aus Rundeisen und Drahtgeflecht bestehende Rabitzsubstruction, wodurch der Gliederaufputz aus Kalkmörtel und Gips ohne jedwede Einlage in unzulässiger Weise bis zu 18 cm Stärke erfolgt ist, beseitigt werden. Hierbei sind zum Schutze aller Betheiligten die weitgehendsten Sicherheitsvorkehrungen zu treffen.

2) Ebenfalls vollständig zu beseitigen sind aus gleichen Gründen die vier, je ca. 4 Ctr. wiegenden Kartuschen aus Gips im Scheitel der großen Wandbögen, da sie sich 2 bis 3 cm abgegeben haben und verschiedentlich bedenklich gesprungen sind.

3) Zwecks Untersuchung der Kassettendecke ist zunächst der ganze Saal in sicherstellender Weise vollständig ausrüsten zu lassen. Auch muß der gesammte Saaldachfußboden ausgehoben und der Fehlboden gänzlich beseitigt werden. Nach Fertigstellung dieser Arbeiten ist dem Baupolizei-Bureau Notiz zu geben. Vom Ergebniß einer daraufhin weiter vorzunehmenden Untersuchung wird es abhängig gemacht werden, ob die Kassettendecke ebenfalls zu beseitigen ist bez. unter welchen Bedingungen sie belassen werden kann. Die auf beiliegendem Sportelzettel verzeichneten Kosten sind binnen 8 Tagen an unserer Kasse, Ritterstraße 28, II., zu bezahlen. Der Rath der Stadt Leipzig, Baupolizeiamt. gez. Dr. Wangemann.

Leipzig, den 8. November 1901. — Bei der heute Nachmittag ½ 4 Uhr von den Unterzeichneten vorgenommenen Besichtigung der Saaldecke im Leipziger Palmengarten, an der sich die Herren Architekt Pommer, Directoren Miederer und Doebner und Baumeister Steyer betheiligten, hat sich ergeben, daß gegen die Rabitzdecke an sich principielle Bedenken nicht geltend gemacht werden können. Die Rabitzdecke ist, soweit gesehen werden konnte, im Allgemeinen fachgemäß und in sicherstellender Weise an der Dachbalkenlage befestigt. Sie zu belassen, liegen diesseits Bedenken nicht vor. teils Bedenken nicht vor. Anders aber ist es mit den vortretenden Gliederungen pp. Diese sind theilweise ganz ohne, theilweise mit ungenügenden Befestigungsmitteln angeklebt und bieten genügende Sicherheit nicht. Auch ist hier derselbe Fehler gemacht worden, der bereits bei der großen Kehle constatirt worden ist. Es sind nämlich die Profile in größerem Umfange durch Auftrag von 3-5 und 10-12 cm starkem Mörtelputz gebildet worden. Die hervortretenden Theile müssen unter allen Umständen vollständig beseitigt werden. Ein Ersatz derselben durch Gipsstuck ist nicht zulässig. Die obere Rabitzdecke darf deshalb nur dann wieder benutzt werden, wenn sie als glatte Decke ohne vortretende Profile und Glieder hergerichtet werden soll.

Soll die Decke indessen, wie nach Aussage der Herren Directoren und des Herrn Architekt Pommer geplant ist, in ihrer jetzigen äußeren Gestalt genau wieder hergestellt werden, so dürfen die Kassetten und die übrigen hervortretenden Glieder auch bei Ausführung in Holz oder Pappstuck nicht an der alten Rabitzdecke befestigt werden. In diesem Falle müssen alle alten Theile, also auch die obere Rabitzdecke, beseitigt werden. Die neue Decke muß direct an der Dachbalkenlage befestigt werden. Uebrigens konnte heute noch festgestellt werden, daß der Riß, welcher zwischen der großen Kehle und der horizontalen Decke herumläuft, schon lange Zeit bestehen muß, da die Bruchflächen auf ca. 20 cm Breite völlig verstäubt sind. Es liegt daher und auch mit Rücksicht darauf, daß die Bruchflächen mehrere Millimeter breit mit Bronze bedeckt sind, die Vermuthung nahe, daß dieser große Riß von Anfang an bestanden hat oder jedenfalls bald nach Herstellung der Decke entstanden sein muß. Gez.: F. A. Haubold, Baucommissar. P. Bastine, Bauinspector. Striegel, Baurevisor.

Registr.-Nr. Va. 6182. Leipzig, den 9. November 1901. — An die Direction des Palmengartens, hier. Im Anschluß an unsere Verfügung vom 30. vor. Mon. lassen wir Ihnen in der Anfuge Abschrift eines weiteres Berichtes zugehen, in welchem das Ergebniß der gestern von unserer technischen Abtheilung vorgenommenen Untersuchung der Decke des großen Saales Ihres Etablissements niedergelegt ist. Sie werden hiermit ausgefordert, bei Wiederherstellung bezw. Umänderung jener Decke Demjenigen allenthalben genau und gewissenhaft nachzugehen, was in diesem Berichte vom technischen Standpuncte aus als nothwendig bezeichnet worden ist und geeignet erscheint, in verkehrssicherheitlicher Beziehung hinreichenden Schutz gegen Gefahr zu bieten. Die auf beiliegendem Sportelzettel verzeichneten Kosten sind binnen 8 Tagen an unsere Kasse Ritterstraße 28, II., zu bezahlen. Der Rath der Stadt Leipzig, gez. Dr. Wangemann. [6]

Die vom Baupolizeiamte vorgenommene Untersuchung in Sachen des Unfalles im großen Saale des Palmengartens ist nunmehr abgeschlossen. Wem die Schuld an dem Unglück beizumessen, vermag man nicht mit Bestimmtheit festzustellen. Infolge der behördlichen Anordnungen hat sich der Aufsichtsrat der Gesellschaft des Leipziger Palmengartens entschlossen, die ganze Saaldecke einschließlich des Deckengesimses vollständig beseitigen zu lassen und durch eine Holzdecke in modernster Konstruktion zu ersetzen. Der Saal bleibt bis auf weiteres geschlossen. [7]

Die Palmengarten-Katastrophe, die bekanntlich im vorvergangenen Winter durch Herabfallen eines Stuckteiles während eines Abendkonzertes herbeigeführt wurde, wobei ein junges Mädchen aus Stettin den Tod fand, wird nun ihr gerichtliches Nachspiel haben: Am kommenden 26. Mai werden sich vor dem hiesigen Landgerichte zu verantworten haben der Architekt Gustav Kietz in Magdeburg, der Stuckateur Karl Kienhöfer und der Baugeschäftsinhaber Otto Hennig, beide in Leipzig. Die Anklage stützt sich auf die Strafgesetzbuchsparagraphen 222 Absatz 2: Außerachtlassung einer Berufspflicht, 230 Absatz 2: Fahrlässige Körperverletzung und § 330: Zuwiderhandlung gegen die anerkannten Regeln der Baukunst. [8]

In dem Prozesse wegen des Deckeneinsturzes im Palmengarten wurde vorgestern nachmittag das Urteil gefällt. Sämtliche vier Angeklagte wurden freigesprochen. In der Urteilsbegründung wird u.a. ausgeführt, daß als Folge der sich widersprechenden Sachverständigengutachten nicht als zweifelsfrei erwiesen zu erachten sei, daß gegen die allgemein anerkannten Regeln der Baukunst verstoßen worden ist. Auch habe sich die konkrete Ursache des Unglücks nicht mit Sicherheit feststellen lassen. Außerdem sei die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß der Fehler in der Dachkonstruktion zu finden sei. [9]


[1] Deckensturz im Palmengarten, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt vom 16. Oktober 1901. Frühausgabe, 1. Beilage, S. 7357.

[2] Deckensturz im Palmengarten, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 16. Oktober 1901. Abendausgabe, Beilage, S. 7377.

[3] Katastrophe im Palmengarten, in: SLUB Dresden. Sächsische Dorfzeitung vom 22. Oktober 1901, S. 5.

[4] Arbeiterbewegung der Rabitzputzer, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 26. Oktober 1901. Abendausgabe, Beilage, S. 7621.

[5] Arbeiterbewegung der Stuckateure, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 28. Oktober 1901. Abendausgabe, 1. Beilage, S. 7673 f.

[6] Untersuchung im Palmengarten, in: SLUB Dresden. Leipziger Tageblatt und Anzeiger vom 17. November 1901. Sonntagausgabe, 4. Beilage, S. 8163.

[7] Unfall im großen Saale des Palmengartens, in: SLUB Dresden. Dresdner Journal vom 18. November 1901, S. 2180.

[8] Gerichtsverfahren Deckeneinsturz, in: SLUB Dresden. Dresdner Journal vom 5. Mai 1903, S. 840.

[9] Gerichtsurteil im Verfahren, in: SLUB Dresden. Dresdner Journal vom 28. September 1903, S. 1757.


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