Gespräch mit Experten – Dr. Enrico Ruge-Hochmuth zur STIGA
Dr. Enrico Ruge-Hochmuth beschäftigt sich seit den 1990er Jahren mit den Themen der Industriekultur und speziell mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Sein Buch gibt erstmals einen Gesamtüberblick über das sächsische Ausstellungswesen bis ins 20. Jahrhundert hinein und ordnet diese in einen regionalen, nationalen und internationalen Kontext ein. Dr. Ruge, Sie beschäftigen sich mit den Gewerbeausstellungen in Sachsen. Was erzählen Sie Jemandem, der noch nichts über die Gewerbeausstellungen gehört hat? Welche Bedeutung würden Sie der STIGA 1897 in Leipzig zusprechen? Das es ab dem frühen 19. Jahrhundert viele Schauen gab, die zu Volksfesten wurden. Sie verbanden Industrie und Kultur miteinander und prägen unser Konsumverhalten bis heute. Denn dort wurde diskutiert und ausgezeichnet, was „schön“ oder was „funktionell“ ist, die Gesellschaft für den Umgang mit Design sensibilisiert. Auch regionale Produktmarken, wie „Plauener Spitze“, „Bautzner Senf“ oder „Glashütter Uhren“ wurden durch diese Veranstaltungen nachhaltig verfestigt. Aber der Bildungsaspekt spielte auch eine Rolle, um Ängste vor der technisierten Welt abzubauen. Der Industriemensch tickt anders und sollte gut funktionieren. So konnte das Produkt und oft auch dessen Herstellungsweise direkt erfahren und manchmal auch in kulturelle Zusammenhänge eingebettet erlebt werden. Die während der Ausstellung täglich erscheinende Ausstellungszeitung druckte man beispielsweise vor den Augen der Besucher auf einer neuartigen Rotationsdruckmaschine. Heute tanzen Menschen nach dem Sound der Maschinen „Techno“ und betrachten maschinell hergestellte Massenprodukte als Kunstform, die zumeist trivial anmutenden Massenprodukte werden bis heute zum einzigartigen Kulturerlebnis stilisiert. Warum gab es so viele Preise? So viel Aufwand im Auf- und Abbau für einen Ausstellungszeitraum von sechs Monaten? Die Aussteller waren zumeist kleine und mittelständische Produzenten und Gewerbetreibende. Sie wollten neue Konsumenten gewinnen und Ausstellungsmedaillen bekommen. In vielen Kategorien wurden solche Preise vor Ort vergeben, um sie anschließend werbewirksam für den Verkauf einzusetzen. Schauen Sie mal auf eine Becks- oder Radeberger-Flasche, da finden Sie auf dem Etikett noch heute die Medaillen. Die Besucher aus dem näheren und weiteren Umland kamen freilich auch, weil ihnen Superlative und außerordentliche Erlebniswelten versprochen wurden. So wurde das „Thüringer Dorf“ mit Kapelle, Friedhof und allem was so dazu gehört nachgebaut und von kostümierten Schaustellern bevölkert, im Ausstellungsteil „Deutsch-Ostafrika“ wurden sogar – auch damals schon war das nicht unumstritten – „echte Eingeborene“ zur Schau gestellt. Für die Besucher war das Reisen durch inszenierte Welten, die sie in der Realität kaum hätten erleben können, ein Highlight. Gibt es Parallelen zum heutigen Streben nach überregionalem Prestige? Der urbane Wettstreit hat in den letzten einhundert Jahren nicht abgenommen. Leipzig will sich nach wie vor als Handels- und Kongressmetropole überregional etablieren und sucht Wege und Möglichkeiten sich international zu profilieren. Trotz aller Virtualität existieren noch immer kleinere, thematisch sehr fokussierte Formate, die genauso direkt auf das Konsumverhalten abzielen. Die „Eventisierung“ spielt dabei nach wie vor eine große Rolle. Vordergründig wollten die Bürger, da hat sich bis heute nichts geändert, gut unterhalten werden. 2022 begeht Leipzig das 125-jährige Jubiläum der Gewerbeausstellung. Sollten wir diesem Gedenken? Was steht für Sie dabei im Vordergrund? „Gedenken“ klingt immer so nach Friedhof. Hier würde ich für ein aktiveres Fortschreiben plädieren. Generell sollten wir Tradition und Zukunft miteinander verbinden. Die Ausstellungen waren ja damals auch ein Ort des öffentlichen Diskurses, beispielsweise über modernes Wohnen, innovatives Bauen, Freizeit oder Hygiene. Heute sollten wir vielleicht Tradition und Zukunft verbinden und uns an den Orten über unser Arbeits- und Freizeitverhalten, den Umgang mit Realität und Virtualität oder ähnlichen Themen auseinandersetzen. Dies konsequent weiterführen. Insofern könnte der heutige Clara-Zetkin-Park, das ehemalige Ausstellungsgelände, einen spannenden Rundgang bergen, der den Bogen vom Gestern zum Morgen schlägt. Welche Chancen sehen Sie für die Kommunikation mit Parkbesuchernm wenn es eine Erinnerungskultur (z.B. ein Parkjubiläum) geben würde? Die immer wieder im Park stattfindenden Feste aber auch das Freizeitverhalten der Leipziger zeigen doch, dass der Park angenommen wird. Die Frage wird sein, wie man die Historie in die Gegenwart einbettet und Schlüsselreize zur Auseinandersetzung schafft. Da gibt es aber viele Möglichkeiten, so kann eine historische Bildprojektion die Gegenwart überlagern. Die sommerlichen Kinovorführungen auf der „Warze“ und die Sommerkonzerte am Musikpavillon knüpfen im Übrigen schon jetzt an das Erbe des Ausstellungstheaters und jene Musikpavillons an, die 1897 aufgebaut wurden. Mehr Informationen können Interessierte in meinem Buch erfahren. Aktuelles: www.stiga-leipzig.de © 2017 is licensed under CC BY-NC-SA 4.0 Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen