Ein Blick in die Literatur – STIGA in Leipzig

Nach der Natur von Ernst Kiesling

Die Ausstellungen, die ihren Ursprung den Museen verdanken, traten das erste Mal in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in die Erscheinung. Sie haben sich seitdem zu einer Institution herausgebildet, die uns jetzt ein geradezu unentbehrliches Bedürfnis dünkt und unserer Zeit ihren eigenartigen Stempel unverkennbar aufdrückt, so daß wir das neunzehnte Jahrhundert das Zeitalter der Ausstellungen nennen könnten. Nachdem das Ausstellungstreiben vergangenes Jahr im Norden und Süden seinen Höhepunkt erreicht zu haben schien, pulsiert es heuer besonders lebhaft mitten im Herzen Deutschlands – in Leipzig. Die Pleißestadt ist durch ihre Bedeutung als alte Handelsempore und durch die centrale Lage im Reiche wie kein anderer Platz geeignet, den Industrie- und Gewerbefleiß der arbeitsamen Bevölkerung Mitteldeutschlands in einem großartigen Gesamtbilde der Welt vorzuführen, und der Aufruf Leipzigs zur Veranstaltung eines friedlichen Wettbewerbs innerhalb seiner Mauern verhallte denn auch nicht ungehört. Das ursprünglich in beschränkterem Rahmen schon für das Jahr 1895 geplante Unternehmen wurde aufgeschoben, wuchs sich aus und gestaltete sich nun zu einer weit über das gewöhnliche Maß hinausgehenden Ausstellung, an der nicht allein das Königreich Sachsen und die Thüringischen Staaten, sondern auch das Herzogtum Anhalt, die preußischen Provinzen Sachsen, Brandenburg (mit Ausnahme Berlins), der Regierungsbezirk Liegnitz von Schlesien und die drei fränkischen Kreise Bayerns beteiligt sind.

Wie die Ausstellungen von jeher gern an ein geschichtlich wichtiges Ereignis anknüpften so ist auch die Leipziger Ausstellung in Erinnerung an das Jahr 1497, in dem die bedeutungsvolle Einrichtung der Leipziger Messen von Kaiser Maximilian I. bestätigt und konfirmiert wurde, ins Leben gerufen worden. Die Ausstellung, welche am 24. April dieses Jahres in Anwesenheit des Königs Albert von Sachsen feierlichst eröffnet wurde, hat ihren Platz im westlichen Teile der Stadt auf den zwischen Karl Tauchnitz- und Bismarckstraße sich hinziehenden Parkwiesen erhalten. Sie ist also für den Besucher leicht erreichbar, dem überdies durch elektrische Bahnen jederzeit die schnellste Fahrgelegenheit nach allen Himmelsrichtungen geboten wird.

Treten wir durch das von zwei hohen Obelisken flankierte Hauptthor in den Ausstellungspark ein, dessen Fläche 400 000 qm umfaßt, so wird uns ein überraschend schöner Anblick zu teil. Vor uns dehnt sich eine überaus reizvolle Landschaft aus. Inmitten herrlicher Anpflanzungen liegt ein blinkender Weiher eingebettet, der von Schwänen belebt und von zierlichen Statuen umrahmt ist, und im Hintergrunde ist das imposante Hauptgebäude sichtbar, das wie ein weißes Schloß zu uns herübergrüßt. Das ist unser Ziel. Wir schreiten die um das Wasser führende breite Lindenallee entlang, die sich durch prächtige Gartenanlagen hinzieht, in denen Kioske und Tempelchen malerisch verstreut liegen, und gelangen über die Flutkanalbrücke, die mit Statuen geschmückt ist, welche Sachsen und Thüringen, Industrie und Gewerbe verkörpern, bis vor das mächtige Hauptgebäude. Dicht vor demselben ist ein Reiterstandbild des Protektors der Ausstellung, König Alberts von Sachsen, errichtet. Das in Renaissancestil gehaltene Bauwerk selbst, das samt der mit ihm vereinigten Maschinenhalle einen Flächenraum von über 40 000 qm einnimmt, ist mit einer Anzahl kleiner Türmchen geziert und zeigt vor der Front die von Säulen getragenen allegorischen Figuren der Städte Dresden, Leipzig, Chemnitz und Erfurt. Wir begeben uns durch das mittelste der drei Portale in den hochgewölbten Kuppelbau, dessen Decken- und Wandmalerei einen hübschen Gedanken zum Ausdruck bringt. Vier mächtige Eichbäume, deren Zweige Putten mit den bezüglichen Attributen beleben, sollen die einzelnen Gewerbarten darstellen. Sie wachsen an den Wänden zur Decke empor, an der sich ihre Laubkronen zur Umkränzung des Symbols der Industrie, eines großen Zahnrades mit dem sächsischen Wappen, vereinen. An der dem Eingang gegenüberliegenden Galeriewand ist eine Orgel aufgestellt und auch im übrigen haben hier besonders wirksam gruppierte und ins Auge fallende Gegenstände Platz gefunden. In einem der nächsten Räume nimmt die Ausstellung des Buchgewerbes ihren Anfang, als deren mächtigste Vertreterin Leipzig obenan steht. Die Halle, in deren Mitte sich die Statue Gutenbergs erhebt, und von deren Wänden die Riesenbilder der vier Evangelisten herabgrüßen, ist mit düsterer Holzdecke ausgestattet und mutet wie eine Klosterbibliothek an.

Hier hat auch die Verlagshandlung unseres Blattes ausgestellt. In dem Bestreben, ihrem Platz ein gefälliges Aussehen zu verleihen, ist sie aus begreiflichen Gründen auf den Gedanken gekommen, ihn mit einer grün umrankten Gartenlaube zu umgeben. Hier finden wir sämtliche Jahrgänge der „Gartenlaube“, die seit ihrer Gründung durch Ernst Keil im Jahre 1853 erschienen sind, in stattlicher Reihe aufgestellt. Ein charakteristisches Bild Ernst Keils schmückt die Mittelwand der Laube und die übrige Wandfläche bedecken Originalbilder von berühmter Künstlerhand. Nebenan hat sich das graphische Gewerbe niedergelassen, das uns unter anderem den Dreifarbendruck praktisch vorführt und dem sich die photographischen Künste, die Papierfabrikation und sämtliche andere verwandte Geschäftszweige anschließen.

Ein interessantes Bild gewährt der Raum, in dem uns klargemacht wird, welche große Bedeutung die Chemie für die Industrie gewonnen hat. Denken wir nur an das kleine Zündholz, dessen Erzeugung hierher gehört. Welche wichtige Rolle spielt es nicht in unserem Leben! Hat man doch ausgerechnet, daß auf den Kopf der Bevölkerung Deutschlands täglich 6 Zündhölzchen kommen, d. i. bei 52 247 000 Einwohnern also ein Verbrauch von 313 482 000 Stück. Ein hoher Obelisk, der aus Schachteln sogenannter Schwedischer Zündhölzer aufgebaut ist, erinnert zugleich daran, wie segensreich diese deutsche Erfindung wirkt, indem sie die gesundheitsschädliche Herstellung der giftigen Phosphorhölzer immer mehr verdrängt. Gut beschickt ist auch die Abteilung für Musikinstrumente, auf welchem Gebiete sich Klingenthal, Markneukirchen und andere Orte des Vogtlandes einen Weltruf erworben haben, ferner die für Pianofortebau, in dem wieder Leipzig Mustergültiges leistet. Unerreicht in der ganzen Welt steht die Uhrenfabrikation der sächsischen Stadt Glashütte da, die selbst den berühmten Genfer Erzeugnissen gegenüber den Vorzug genießt. Einen bedeutenden Industriezweig Sachsens und Thüringens bildet die Keramik. Allen anderen Städten voran marschiert hier Meißen mit seiner Königlichen Porzellanmanufaktur, die zahlreiche künstlerische Erzeugnisse aufgestellt hat. Ferner festigen die Galanterie- und Spielwarenindustrie des Ausstellungsgebietes durch das, was sie herbeigeschafft, die hohe Meinung, die man schon längst überall von ihnen hegt. Einen gewaltigen Eindruck hinterläßt die Gruppe „Berg-und Hüttenwesen“, deren Produkte ganz ausgezeichnete sind. Und auch die anderen Zweige alle sind vertreten und verdienen Anerkennung und vollstes Lob. Hervorragendes Interesse erweckt die Maschinenhalle mit ihren unzähligen großen und kleinen Betrieben. Eisenbahnzüge, die mit allen Ausrüstungen der Neuzeit versehen sind, können wir besteigen und besichtigen. Der Schnellzug mit seinen Brems- und Sicherheitsvorrichtungen erweckt eine beinahe unbezwingliche Reiselust in uns. Sehr lehrreich gestaltet sich der Besuch der Sonderausstellung der königlich sächsischen Staatsverwaltungen. Hier werden wir durch Pläne und Modelle, Instrumente und Apparate, sowie durch Sammlungen mit den Einrichtungen der Universität, der technischen Staatslehranstalten und der Fachschulen bekannt gemacht. Wir lernen die Heil- und Pflegeanstalten, das Meteorologische Institut in Chemnitz kennen, erhalten Einblick in das Straßen-, Eisenbahn-, Wasser- und Hochbauwesen ec. und gewinnen ein eindrucksvolles Bild von der für Industrie und Gewerbe so wichtigen Arbeit der statistischen Bureaus eines Landes. Nachdem wir dies höchst interessante Gesamtbild, das uns hier von der Thätigkeit und Fürsorge einer umsichtigen Regierung gegeben wird, mit Bewunderung geschaut haben, verlassen wir das Hauptausstellungsgebäude!

Mit richtigem Verständnis für die Anstrengungen, die der eingehende Besuch großer Ausstellungsräume mit all den verschiedenartigen Eindrücken auf empfängliche Gemüter mit sich bringen muß, ist man darauf bedacht gewesen, die Stätten der Erholung und Zerstreuung bis dicht an die Thüren des Hauptgebäudes heranzuführen. An den nördlichen Flügel schließt sich das Vergnügungsviertel an, während der südliche Flügel an das „Thüringer Dorf“ grenzt. Wir ziehen zunächst den Ausflug in das an Wald und Fluß gelegene Dorf vor, dessen Häuser teils aus „echten“ Bauwerken bestehen, die an ihrem Standorte abgebrochen und hier wieder aufgebaut worden sind, teils solche in naturgetreuer Nachbildung veranschaulichen. Die ganze höchst charakteristische Anlage führt uns ein überaus anziehendes Bild menschlicher Wohnungen aus einem der schönsten Teile des Ausstellungsgebietes, dem herrlichen Thüringen, vor. Aber der originellen Schöpfung liegt wohl noch ein anderer tieferer Gedanke zu Grunde: vielleicht trägt auch sie dazu bei, den Sinn für den überfeinerten Geschmack des fin de siècle wieder mehr auf Ursprünglichkeit und Einfachheit zurückzuführen. Wie ein frischer Hauch, gemischt aus Wald- und Höhenluft, weht es uns aus diesem idyllischen Erdenwinkel entgegen. Um einen von Enten und Gänsen belebten Teich, in dessen trübem Wasser sich knorrige Weidenbäume von urgemütlichem Aussehen widerspiegeln, ist das Dörfchen aufgebaut, das ein gastfreies Völkchen bewohnt. Im Bauernhaus, in dem das Pfeifenschnitzen noch als Hausindustrie betrieben wird, ist frische Milch zu haben, und in der Schmiede dicht daneben, die von jeher auf einen guten Tropfen halten mußte, wenn die Fuhrleute eines beschädigten Rades oder verlorenen Hufeisens wegen vorsprachen, wird man nicht trockenen Gaumens von der Schwelle gewiesen. Beide Häuser sind auf unserem Bilde S. 309 rechts sichtbar. Auch an einem Gutshof mit Scheune und Taubenschlag fehlt es nicht und dort macht sich das stattliche Gemeindehaus mit hohem Treppenvorbau und geräumigem Saale breit. Jetzt zieht uns der liebliche Duft von Rostbratwürsten und „rohen“ Kartoffelklößen – den Nationalgerichten des Thüringers – in die Nase. Wir sind vor dem Dorfkrug angelangt, an dem das verwitterte Wirtshausschild heraushängt. Doch horch, welch ein Rauschen! Uns ist, als wenn wir es deutlich klingen hörten.

„In einem kühlen Grunde,
Da geht ein Mühlenrad …“

Ja, so und nicht anders muß sie ausgesehen haben, die Mühle mit dem bemoosten Rad, die Eichendorff zu seinem gemütstiefen Volksliede begeistert hat. Aber weiter, denn auch die alte romanische Dorfkirche dort ladet uns zu einem Besuche ein! Sie stellt die „Elisabethkapelle“ dar, die sowohl wie der in Stein gefaßte „Elisabethbrunnen“ vom Erbauer des Dorfes nach Mitteilungen der Wartburgchronik, laut welchen sie einst am Fuße des Wartburgberges gestanden haben, frei nachgebildet wurden. Unser Bild zeigt beide neben der alten Mühle. Und nun schweift der Blick zur Wartburg selbst hinüber, die jenseit des Flußbettes errichtet und mittels einer malerischen überdeckten Holzbrücke erreichbar ist. Das herrliche Wahrzeichen Thüringens, das noch aus dem 11. Jahrhundert stammt, läßt allerlei Gestalten aus Sage und Geschichte vor unserem geistigen Auge aufsteigen, aus denen die heilige Elisabeth, Tannhäuser, Wolfram von Eschenbach, sowie die kernige Gestalt Luthers hervorragen.

Wir kommen an dem Hauptcafé und der in leichtem Dekorationsstil gehaltenen Hauptgastwirtschaft vorbei, die einladend an einem künstlichen Wasserbecken gelegen sind, dessen mächtiger Springbrunnen abends in den herrlichsten Farbenreflexen erstrahlt, und wandern zunächst zu der im Renaissancestil erbauten Halle der Stadt Leipzig, in der die Verwaltung der viertgrößten Stadt im Reiche mit ihren trefflichen Anlagen, Einrichtungen und Anstalten in Grundrissen, Ansichten und Modellen gemeinverständlich dargestellt ist. Hoch- und Tiefbau, Gas- und Wasserwerke, Schlachthof, Markthalle und Gartenbau fanden eingehende Berücksichtigung. Das Polizei- und Steuerwesen sind vertreten, ebenso das Krankenhaus und andere Heilanstalten. Ein umfangreicher Platz ist dem Unterrichtswesen eingeräumt, in dessen Abteilung ein Klassenzimmer, ein naturwissenschaftliches Lehr- sowie ein Lehrmittelzimmer mit allen Ausrüstungsgegenständen eingerichtet sind. Hinter dem Gebäude wird uns der unterirdische Teil einer Straße mit seinem verzweigten Kanalsystem, seinem Röhren- und Kabelnetz in Wirklichkeit gezeigt.

Hieran läßt sich der Besuch der Ausstellung für Gas und Wasser, die ebenfalls in einem eigenen Bau untergebracht ist, leicht anschließen. Ganz besonders belehrend hat sich dieselbe in der Behandlung und Vorführung des Gases gestaltet. Hier werden wir über Herstellung und Abgabe desselben unterrichtet. Wir erfahren, wieviel Gas sich aus einer gewissen Menge Kohle erzeugen läßt, was für Nebenprodukte daraus erzielt werden, und lernen die aus dem Teer gewonnenen Heilmittel und Anilinfarben ec. kennen. Wir haben Gelegenheit, die Verwendung des Gases für Küche und Haus zu Heiz-, Koch- und Leuchtzwecken zu studieren, und bekommen so einen Begriff von der großen volkswirtschaftlichen Bedeutung desselben gerade für die einfacheren Verhältnisse des kleinen Mannes. Mit den bereits in Belgien, England, Frankreich und anderen Ländern eingeführten Gasautomaten werden wir gleichfalls bekannt gemacht, die das Gas erst nach Einwurf eines Geldstückes verabreichen. Kurz, wir überzeugen uns, daß das Gas, welches nach Aufkommen des elektrischen Lichtes neuerdings vielfach hintangesetzt wurde, sich noch lange nicht überlebt hat. Auch die Wichtigkeit der Zuführung eines guten möglichst reinen Wassers für die Gesundheitsverhältnisse, namentlich in den Großstädten, wird uns überzeugend dargethan.

Auch die Textilindustrie hat in einem besonderen Hause, ihrer hohen Bedeutung entsprechend (bestehen doch in Sachsen allein mehr als 5000 selbständige Textilbetriebe) eine sehr umfangreiche und interessante Ausstellung veranstaltet. Wohl fast alle Maschinen, die vom Beginn der Verarbeitung des Rohstoffes bis zur Vollendung derartiger Ware nötig sind, finden wir hier meist in vollem Gange. Herrliche Erzeugnisse der Spinnerei, Weberei und Wirkerei sehen wir mit eigenen Augen entstehen. In einem Bau von 3000 qm Grundfläche sind die landwirtschaftlichen Maschinen, Geräte und Erzeugnisse, Gerätschaften, die für Fischerei und Imkerei, Sport und Hygiene dienen, untergebracht. Auch die Fahrradindustrie Mitteldeutschlands möchten wir, obgleich sie nicht hier, sondern auf der entgegengesetzten Seite des Ausstellungsplatzes ihr eigenes Gebäude gefunden hat, schon jetzt erwähnen. Sie verdient wahrlich nicht zuletzt genannt zu werden. Trotz ihrer Jugend hat sie sich so erfreulich entwickelt, daß sie getrost mit England zu rivalisieren vermag. Doch nun zurück und zur Gartenbauhalle, in der zu den verschiedenen Jahreszeiten die denselben entsprechenden Kinder der Flora blühen und duften und dann immer – wie jetzt – einen lieblichen und zugleich lehrreichen Anblick bieten werden. Hier sollen auch zeitweise Ausstellungen auf dem Gebiete der Handfertigkeitsschulen, der Liebhaberphotographie, Briefmarkenkunde und der Jagdtrophäensammlung stattfinden. Ein Teil der Halle ist für ein von Künstlerhand geschaffenes Diorama abgegrenzt, das in eigenartigem Kontrast zu dem eben bewunderten heimatlichen Blumenflor die ganze Mächtigkeit des tropischen Urwaldes Südamerikas darstellt.

Als ein bei aller Einfachheit der Mittel vornehmes Bauwerk stellt sich die Kunsthalle dar. Neben zahlreichen Schöpfungen Uhdes, Prells, Hermann und Hugo Vogels, Kanoldts, Carl Ludwigs, Gussows, Seffners und anderer ist hier eine Sonderausstellung des Leipzigers Max Klinger veranstaltet, auf der sein neuestes Werk zu sehen ist, das einer Vermählung von Bildhauerkunst und Malerei entstammt. Es stellt Christus im Olymp dar und darf wohl, was Gedankentiefe und Ausführung anbelangt, als ein Meisterwerk bezeichnet werden.

Um die Fortschritte der Neuzeit zu erkennen und zu verstehen, giebt es wohl kaum ein besseres Mittel als einen Vergleich zwischen Vergangenheit und Gegenwart anzustellen. Zum Teil diese Erkenntnis, dann aber auch der Reiz der Architektur neben pietätvollem Sinn für das von den Vätern Geschaffene zeitigte auf den Ausstellungen der letzten Jahre die Anlage alter Städte, die in ihren beschränkten Verhältnissen inmitten der Großstadt mit ihren hohen lichtdurchfluteten Räumlichkeiten so recht augenfällig den Unterschied von einst und jetzt darthun. Auch Leipzig ist diesen Ideen gefolgt und hat in Erinnerung an das 400-jährige Jubiläum seiner Messen, das wir schon eingangs erwähnten, die innere Stadt oder das alte Meßviertel aufgebaut, wie es, wenn auch nicht um das Jahr 1497, so doch vielleicht im 16. Jahrhundert ähnlich ausgesehen haben mag. Wenn man das massige Thor der „Stadt“ durchschritten hat, befindet man sich in Auerbachs Hof, der mit seinen Erkern, Giebeln und Winkeln einen recht anheimelnden Eindruck auf uns ausübt. Wir kehren in dem durch das Goethesche Drama so berühmt gewordenen Auerbachs Keller ein, zu dessen künstlerischer Ausschmückung Bildhauer und Maler sich die Hand gereicht haben. Mit glücklichem Griff haben sie Scenen aus „Faust“ genommen und diese mit köstlichem Humor parodiert. So sehen wir Faust und Mephisto durch des Gewölbes Decke entschwinden. Greifbar schweben noch die Beine der kühnen Faßreiter, deren obere Hälften schon durch die Steinquadern gedrungen sind, über uns in den Lüften und auch das Bäuchlein ihres hölzernen Rosses ist noch sichtbar. Dort ist eine vollständige Hexenküche eingerichtet, von Meerkatzen und anderem Getier umgeben und mit all dem seltsamen Hexenhausrate ausgestattet, wie es der Dichter vorschreibt.

Nachdem uns ein Glas Frankenwein gestärkt, gehen wir weiter und gelangen nach dem Naschmarkt, auf dem uns das Rathaus mit seinem hohen Giebel und dem Dachreiter besonders interessiert. Das alte gotische Bauwerk, das um die Mitte des 16. Jahrhunderts abgebrochen worden ist, um dem jetzt noch stehenden von Hieronymus Lotter errichteten Bau zu weichen, ist nach einem alten Stadtbilde aufgebaut worden. Dem Rathaus gegenüber erhebt sich das Polizeigebäude, neben dem ein anderes stattliches Haus, der sogenannte Marstall, Platz gefunden hat. Die inneren Räume des Meßviertels bergen eine ganze Anzahl Gastwirtschaften, darunter eine Gosenstube, in der man das berühmte Leipziger Getränk verabreicht. Im Rathause ist eine Sammlung von Gegenständen und Urkunden aus geschichtlicher Zeit untergebracht. In den Läden zu ebener Erde wird flott gefeilscht und gehandelt. Gestalten in den Trachten damaliger Zeit bieten Waren zum Verkauf aus. Unser Bild stellt Auerbachs Haus dar, durch dessen Thor man in den Hof gelangt, rechts davon schließt entgegen der Wirklichkeit, in der noch ein Haus dazwischen steht, das Café National an, während auf der linken Seite andere ehrwürdige Zeugen der guten alten Zeit sich anreihen.

Die Bevölkerung eines Landes, in der Industrie und Handel blühen, sucht sich naturgemäß immer neue Absatzgebiete zu erobern und wird darum die Kolonialbestrebungen ihres Landes mit Anteil verfolgen und gern fördern. Diesem praktischen Zuge Rechnung tragend, hat man die Kolonialausstellungen unternommen. Auch Leipzig hat eine solche erhalten, die das Leben und Treiben in Ostafrika schildern soll. Wir können nicht nur die eigenartigen Gebäude des Landes, unter ihnen eine runde Bastion des Forts in Mpuapua, das Wißmann im Jahre 1889 anlegte, sowie die Station Usungula („Hasenland“) mit ihrem Grasdach, die in der Geschichte der deutschen Kolonisation einst eine bedeutsame Rolle spielte, in naturgetreuen Nachahmungen von innen und außen bewundern, sondern auch die wirklichen Kinder und Erzeugnisse Ostafrikas kennenlernen.

Und nun hinein ins Vergnügungsviertel! Da bildet eine recht bemerkenswerte Sehenswürdigkeit das Alpendiorama, dessen Aeußeres wir auf einem unserer Bilder wiedergeben. Es stellt die Burg Taufers bei Meran in Tirol vor. Durch das Burgthor gelangt man ins Innere, zum Bahnhof einer Drahtseilbahn, auf der wir an einer Fahrt in luftige Höhen teilzunehmen glauben. Wir überwinden in wenigen Minuten die schwierigsten Bergpartien und genießen in vollen Zügen prächtige Aussichten auf die großartige Alpenscenerie mit ihren Bergen, Thälern und Gletschern. Erwähnenswert ist ferner das Jerusalem-Panorama in dem mit zwei babylonischen Türmen gezierten Rundbau, das Theater mit seiner dorischen Tempelfassade, in dem die leichtgeschürzte Muse ihr Wesen treibt, und die Wasserrutschbahn, wie sie, nur kleiner angelegt, im vorigen Jahr auf der Berliner Ausstellung zu finden war. Ein anderes Panorama führt uns in die Welt Nansens hinein. Wir sehen das zu einem Eisgebirge erstarrte Meer vor uns, auf dessen Bergen sich wirkliche Eisbären in Freiheit tummeln. Ein tiefer Graben zwischen Schaubühne und Publikum schützt letzteres vor jeder Gefahr. Wärter, die wie Eskimos in Felle gehüllt sind, bilden die Staffage des Bildes. Da steigt über die bläulich schimmernden Eisberge langsam ein Riesenungetüm empor. Sollte Andree doch das kühne Wagnis unternommen haben? – Doch nein, es ist der Fesselballon, von dessen Gondel wir aus einer Höhe von 500 m das Ausstellungsgelände überblicken und weit ins Land hinein sehen können. Von anderen Schaustellungen besichtigen wir noch die kleine elektrische Stufenbahn und die Taucherstation. Nun besteigen wir die elektrische Rundbahn, die sowohl mit ober- als auch unterirdischer Leitung versehen ist und uns in kürzester Frist in das Kneipenviertel bringt, in welchem ein jeder seinen Nektar finden wird, vom braunen Bohnensaft in geschmackvoller Stufenleiter bis zum prickelnden Schaumwein hinauf.

Hier sitzen wir dann abends in einer der originellen Wirtschaften mit dem Blicke auf das weite Ausstellungsfeld, das in ein Meer von Licht getaucht vor uns liegt. Und wenn wir das, was wir gesehen, noch einmal an unserem geistigen Auge vorüberziehen lassen, überkommt uns eine wahrhafte Ehrfurcht vor der Summe von Intelligenz und Fleiß, die sich hier bethätigt hat, und das beruhigende Gefühl steigt in uns auf: wie sich auch die Zeiten gestalten mögen, Industrie und Gewerbe Deutschlands, die auf eine beachtenswerte Vergangenheit zurückblicken können und sich der Gegenwart so vollkommen gewachsen zeigen, werden sicher auch eine glänzende Zukunft haben!

Von Max Hartung mit Abbildungen von A. Liebing und E. Kiesling.


Sächsisch-Thüringische Industrie- und Gewerbe-Ausstellung in Leipzig, in: Die Gartenlaube 1897. Leipzig. Heft 19, S. 312-318.


Autor/in

  • Gegründet wurde das illustrierte Familienblatt von Ernst Keil und Ferdinand Stolle in Leipzig. Seit 1853 versorgte das weit verbreitete Familienblatt seine Leserschaft mit Prosa und Poesie. Es wurde von Ernst Keil's Nachfolger fortgeführt und gilt heute als eine wichtige Quelle zur deutschen Kulturhistorie. Alle Fundstücke werden als Originaltexte mit der Lizenzierung CC BY-NC-SA 4.0 veröffentlicht. Wir weisen darauf hin, dass die Meinung des Verfassers verstörende Ausdrucksweisen enthalten kann und nicht die Haltung der Autoren der Webseite wiedergibt.

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